Was bleibt
Das Vermächtnis des Antal Tombor / Von Arnika Hamsea
In: metamorphosen 29 (1999), 12-13.


Antal Tombor sitzt in seinem Garten an der Feldsteinmauer, umgeben von Haselsträuchern, Kirsch- und Pfirsichbäumen. Vor ihm, auf dem massiven Nußholztisch, stehen eine Flasche Rotwein und eine alte Robotron, solides DDR-Fabrikat. Auf ihr schreibt er über das, was er erlebt und erfahren hat: zuerst die Kindheit mit monogrammverzierten silbernen Serviettenringen, dann die Wechselfälle der ungarischen Geschichte, vom Zweiten Weltkrieg, der faschistischen Diktatur der Pfeilkreuzler, dem Stalinismus, dem Aufstand von 1956, der Stabilisierung des Sozialismus bis hin zur Wende und der gegenwärtigen Phase der demokratisch-marktwirtschaftlichen Gehübungen. Dazwischen Ehen, Liebschaften und Kinder in einer Zahl, daß man den Überblick verliert. Reichlich Material also, das der vormalige Filmregisseur und Bürgermeister der Stadt Kandor, dessen Werdegang auch ein Intermezzo in den sozialistischen Gefängnissen sowie eine Zeit des Berufsverbots einschließt, vor uns ausbreitet. Wer deshalb aber ein hübsches biographisches Werk erwartet, an dessen chronologischen Halteseilen man sich mühelos entlanghangeln kann, wird enttäuscht: der monologisierende Erzähler bewegt sich sprunghaft-assoziativ durch Zeiten und Realitätsebenen, festgehalten wird das, was ihm gerade ins Gesichtsfeld oder ins Bewußtsein gerät, mal weilt sein Blick auf der klassischen Gratlinie des Alten Bergs oder dem Maisfeld jenseits der Feldsteinmauer, mal kehrt er sich nach innen und folgt den verschlungenen Pfaden der Erinnerung, dieser Gegenstand wird bloß im Vorübergehen gestreift, jener hingegen ein Weilchen umkreist. Wahrnehmungen in ihrem zufälligen Nebeneinander, Beobachtungen, Reflexionen und Aphorismen stehen neben Geschichten von eigenen Erlebnissen und jenem, was anderen widerfahren ist. "In meinem Bewußtsein ist alles, wie die Straßen in einer Stadt, im Raum nebeneinander ausgebreitet", sagt Tombor und überläßt den Leser, der sich mit der Orientierung schwertut, seiner Verwirrung. Am Ende steht man da mit einem Sack voller bunter Steine. Das ist der Nachlaß des Antal Tombor, der zu Beginn des Romans nur noch wenige Monate zu leben hat und der das zusammenträgt, was er als aufbewahrenswert empfindet. "Wir wollen die Dinge bewahren, die sonst spurlos verschwinden. Zur eigenen Beruhigung wecken wir sie in Gläser ein." Am Schluß des Buches verschwindet der ehemalige Bürgermeister von Kandor auf unerklärliche Weise. Eine Stimme, die dem Leser als seltsames Alter ego des Icherzählers vom Verlauf des Romans her schon bekannt ist, berichtet von gelegentlichen Spukerscheinungen des Verschwundenen, identifizieren kann der hilflose Leser diese Stimme jedoch nicht.

Auf eine logisch-chronologische Orientierung aber, so scheint es die ostentative Willkür im Umgang mit Tempus und Erzählergestalt zu suggerieren, kommt es nicht an: der Inhalt des erwähnten Sackes will nicht zum biographischen Mosaik zusammengefügt werden. Die Steinchen sind "Bilder der Welt", gesammelt in einem erfahrungsreichen Leben, denn dem Bürgermeister ist vieles zuteil geworden, und jedes ist für sich betrachtens- und bedenkenswert. Konrád skizziert Geschichten und Gestalten, die einen gefangennehmen, die sich dem Gedächtnis einprägen: Miniaturen über das Leben. Da gibt es beispielweise im städtischen Heilbad einen weißhaarigen Herrn, ohne den das Bad nicht wäre, was es ist: "Schon seit achtzig Jahren, seit er sieben geworden ist, kommt er jeden Tag hierher; nur in äußersten Ausnahmefällen blieb er weg, nie wegen Krankheit, höchstens wegen Reisen, Arbeitslager, Belagerung und Revolutionen." Konráds Sprache ist schlicht, ohne rhetorischen Tand und Flitter, der Ton ist beiläufig, hie und da aphoristisch, selten lyrisch. Und aus dieser zumeist unauffälligen Sprache mit ihrem alltäglichen Wortschatz bricht unvermutet und mit sicherer Wirkung konzentrierte Wirklichkeit hervor. In einer einzigen lapidaren Feststellung etwa wird die Realität des Lebens unter den Bedingungen eines Polizeistaats, in dem Wanzen allgegenwärtig sind, unmittelbar greifbar: "Wenn unsere Liebste uns beschimpfen will, bittet sie uns dazu auf die Straße."

Was Tombor beschäftigt, ist die "Wissenschaft vom Ertragen des Bestehenden". In ihrem Zeichen steht die Miniaturengalerie, die er zusammenträgt. Sein eigenes Leben ist geprägt von Erfahrungen des Verlustes, vom jähen Hereinbrechen des Schrecklichen, des Todes und der Gewalt. "Die Erinnerung an das Haus der Kindheit handelt vom Aufhören der Beständigkeit." Im Mai 1944 werden Tombors Eltern im Viehwaggon abtransportiert; 1956 verlassen Freunde und Familie das Land. "Sogar meine Frau machte sich auf den Weg in Richtung Grenze, ging dreimal um einen Berg herum, durch dessen Mitte die Grenze verläuft, und kam schließlich zurück nach Hause." Überraschend und beeindruckend dabei ist, daß der Bericht von diesen und ähnlichen Dingen nicht ressentimentgetränkt ist, es bestimmen weder Bitterkeit, Larmoyanz oder Resignation die Haltung Tombors, noch flüchtet er sich in die Hoffnung auf eine kompensatorische Transzendenz. Die Grunderfahrung vom Aufhören der Beständigkeit läßt ihn statt dessen das Leben als etwas begreifen, was schon stattgefunden hat, "alles was jetzt noch kommt, ist ein zusätzliches Geschenk". Tombor strebt die "Glückseligkeit des bloßen Daseins" an, mehr will er vom Leben nicht. "Wir sitzen auf der Mole, und nichts dürfte anders sein, als es gerade ist."

Wer von einem Roman erwartet, daß er zuvorderst eine Geschichte erzähle, der sollte nicht zu diesem Buch greifen. Wer aber bereit ist, sich auf Konráds Verwirrspiel einzulassen und auch die gelegentlichen Längen des dreihundertseitigen Monologs nicht zu schwer nimmt, der wird reich belohnt: denn Konrád hat etwas zu erzählen. Und für seinen Roman gilt, was der Bürgermeister über seine Stadt sagt: "Eine tausendjährige Stadt weiß etwas, worüber nachzudenken lohnt."

Schade nur, daß der Übersetzer sich nicht immer des deutschen Lesers bequemt: Wiederholt gerät man an Satzgebilde, die als Lesehindernisse erst in einem zweiten Anlauf genommen werden können oder die sich gar als syntaktischer Irrgarten ohne Ausweg erweisen. Daß es auch anders geht, zeigt Mario Szenessys Übertragung von Konráds Erstlingsroman, Der Besucher (A Látogató, 1969), der jetzt in einer leicht revidierten Neuauflage zu haben ist.

György Konrád: Der Nachlaß. Roman. Aus dem Ungarischen v. Hans-Henning Paetzke. Frankfurt a. M: Suhrkamp, 1999. Geb., 305 S., 42 Mark.


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