"Höchste Schwierigkeit zu kategorisieren"
Die Karl-Kraus-Ausstellung in Marbach am Neckar / Von Oliver Fink
In: metamorphosen 29 (1999), 36-37.


"Er hat eine heftige Art, widersprechend, unversöhnlich, leidenschaftlich und höchst phantasievoll; er schreibt sich in Wut und Erregung hinein, die ihn produktiv machen; die Leidenschaft überschlägt sich manchmal, und nicht selten sieht man ihn am Schluß einer furibunden Expektoration eine drohende Faust schwingen. Er schreibt Stachelzäune, an denen man sich nicht nur die Hosen aufreißt: zum Überfluß lädt er oft Drähte elektrisch, und wer ihnen ohne Isolierhandschuhe naht, liegt im soliden Tetanus am Boden." Alfred Döblin porträtiert Karl Kraus. Treffender läßt sich das Kämpferische seiner Erscheinung, wie es dem Leser und Zuhörer seinerzeit gegenübertrat, wohl kaum charakterisieren.

Im Deutschen Literaturarchiv in Marbach erinnert man gerade mit einer Ausstellung an den 125. Geburtstag des im böhmischen Jicin Geborenen, der die meiste Zeit in Wien lebte. Noch größeren Anlaß für die Retrospektive bietet freilich seine vor hundert Jahren entzündete Fackel, die erst mit seinem Tod erlosch. Was zunächst als alternative Zeitschrift im - laut Kraus - korrupten Mediendschungel gedacht war, geriet zur großangelegten Weltschau ihres Herausgebers, der seit 1911 sämtliche Beiträge selbst verfaßte. Die Fackel ist unzweifelhaft das eigentliche Hauptwerk von Karl Kraus. Sein Leiden an der Politik, an der Presse, am Theater - mit den ganz in rot gehaltenen Heften schuf er sich ein Instrumentarium, um darauf unmittelbar zu reagieren. Das in der ersten Ausgabe angekündigte Versprechen, "einen Kampfruf auszustoßen", hat er mit der von Döblin beschriebenen Besessenheit eingelöst.

Karl Kraus rang um die Sprache, deren "Verlotterung" und Entstellung für ihn den kulturellen Niedergang der Zeit bedeuteten. Seine bevorzugte Form war die Satire – Zitat, Montage, Collage die literarischen Techniken seiner Sprachkritik. Kraus erkannte, daß es genügt, den Gegner mit seinen eigenen Worten zu zitieren; da braucht es in der Regel keinen Kommentar mehr, um ihn bloßzustellen. In den Letzten Tagen der Menschheit - seinem wohl bekanntesten Werk - hat er das auf geradezu monströse Weise praktiziert. Das in drei Sonderheften 1918/19 in der Fackel erschienene Drama über den Ersten Weltkrieg ist ein einziges Stimmengewirr, das sein Autor aus den verschiedensten Quellen zusammengebraut hat. Drei große Vitrinen, in der Mitte des Ausstellungsrundgangs, zeigen Vorlagen, derer sich Kraus bediente: Zeitungsausschnitte, Postkarten, Werbebroschüren usw.

Manche sahen in ihm auch einen Moralisten. An der Wand hängt jenes berühmte Plakat, das Kraus 1927 überall in Wien anschlagen ließ und mit dem er den damaligen Polizeipräsidenten Johann Schober zum Rücktritt aufforderte. Zuvor hatte dieser bei einer Demonstration den Schießbefehl erteilt, der 90 Demonstranten das Leben kostete. Auch Gerichtsprozesse strengte Kraus an, sobald er die Gerechtigkeit bedroht sah. Materiell unabhängig aufgrund des väterlichen Vermögens aus einer Papierfabrik, führte er den Erlös der erfolgreichen Fackel wohltätigen Zwecken zu. Diese Hilfsbereitschaft auf allen Ebenen ist die andere Seite des Polemikers Karl Kraus, der ansonsten mit harten Bandagen kämpfte.

Ein bloßer Aufdecker, Kämpfer gegen Korruption und Cliquenwesen aber wollte er nicht sein. Dazu war Kraus zu sehr Sprachartist und Ästhet. Er verkehrte in Künstlerkreisen, es standen ihm nahe: Frank Wedekind, der Wiener Kaffeehausliterat Peter Altenberg, der Architekt Adolf Loos und Else Lasker-Schüler, um nur einige zu nennen. Mehrere Bücher von Kraus waren Anthologien verschiedener Fackel-Beiträge zu bestimmten Themen, doch wurden sie entaktualisierend bearbeitet. Nur um das Inhaltliche ging es ihm also nicht, es müsse dem - so Kraus - eine adäquate Form zugeordnet werden.

Und das läßt sich in Marbach auch an scheinbar Nebensächlichem ablesen. So beispielsweise an der innigen Beziehung zu seinem langjährigen Drucker Georg Jahoda. "Mitschöpfer, nicht bloß Wirker am Format" nennt er ihn in einem Widmungsgedicht aus Anlaß von dessen 60. Geburtstag und setzt ihm damit ein ganz besonderes Denkmal. Überhaupt scheint die Ausstellung bestrebt, den Ruf des Lyrikers Karl Kraus ein wenig aufzupolieren. Eine kleine Auswahl seiner Worte in Versen versammelt der Katalog, und zumindest angesichts dieser Gedichte stellt man sich die Frage, ob sie denn zu Recht so lange im Schatten seines übrigen Werkes standen. Gerade in der Vergangenheit hatte man sich vielleicht allzusehr auf Urteile wie die von Robert Musil verlassen, der in der Lyrik von Kraus die "Achillesferse" des "streitbaren Geistes" erblicken wollte.

Naturgemäß stärker im Bewußtsein der Zeitgenossen als im Gedächtnis der Nachwelt ist der Rezitator Karl Kraus. Seine unter der späteren Bezeichnung "Theater der Dichtung" veranstalteten Lesungen – genau 700 Abende zwischen 1910 und 1936 – waren so etwas wie das mündliche Parallelunternehmen zur Fackel. Auf Tournee durch zahlreiche Städte präsentierte er eigene Texte und solche von anderen Autoren. Neben bunten Plakaten und Eintrittskarten vermag die Ausstellung sogar einen akustischen Eindruck vom Vortragsstil zu vermitteln: bislang unbekannte Ton- und Filmaufnahmen aus den dreißiger Jahren, deren pathosgetränktes Sprechen für heutige Ohren allerdings ein wenig gewöhnungsbedürftig ist. Und so dienen die Programmzettel vor allem dazu, Kraus' literarhistorische Exkursionen zu veranschaulichen: seine Shakespeare-Verehrung, seine Liebe zu den Operetten Jacques Offenbachs, seine Wiederentdeckung Johann Nestroys, dessen Renaissance auf dem Theater er einleitete.

Die Karl-Kraus-Ausstellung ist geschmackvoll und dezent inszeniert. Drei Räume genügen den Marbachern, um alle wichtigen Facetten dieses Autors anzusprechen, auch wenn dabei natürlich nicht alles bis ins kleinste Detail verfolgt werden kann. Deutlich wird vor allem das Inkommensurable seines Wirkens. Bis heute fällt es schwer, seine historische Rolle knapp zu umreißen, ihn irgendeiner literarischen oder politischen Strömung zuzuordnen. Und so hält man sich am besten erneut an Alfred Döblin, der über Karl Kraus resümierte: "Eine eigentümliche Begabung, ein sonderbares Niveau schriftstellerischer Betätigung, ... höchste Schwierigkeit zu kategorisieren."

Noch bis zum 31. Oktober 1999 im Schiller-Nationalmuseum in Marbach am Neckar. Geöffnet: täglich 9 bis 17 Uhr. Der Katalog zur Ausstellung hat 530 Seiten und kostet 36 Mark.


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