O IHR GENÜGSAMEN! Der Stoßseufzer stammt – wie sollte es anders sein – von Friedrich Nietzsche und beendet in der Fröhlichen Wissenschaft den Artikel über die "unbewußten Tugenden" (I.8). Die metamorphosen seufzen mit und geben von jetzt an in jedem Heft einer/ einem akut Frustrierten die Gelegenheit, sich Luft zu machen und über die bewußten Untugenden unseres Alltags zu schreiben.

Radio Gaga
Die schrecklich gute Laune des Hörfunks / Von Roman Luckscheiter
In: metamorphosen 29 (1999), 6-7.


Vier Jahre nach Inbetriebnahme des ersten deutschen Mittelwellensenders schrieb Bertolt Brecht 1927 etwas abschätzig über die neue Erfindung: "Man wunderte sich natürlich zuerst, woher diese tonalen Darbietungen kamen, aber dann wurde diese Verwunderung durch eine andere Verwunderung abgelöst: Man wunderte sich, was für Darbietungen da aus den Sphären kamen." Und dabei ist es im Grunde bis heute geblieben. Wer sich dazu entschlossen hat, seine Fernsehsucht durch asketisches Radiohören zu kurieren, um wenigstens noch mit einer Antenne an den Segnungen der Multimedialität teilnehmen zu können, den erwartet jedenfalls nichts Gutes. Zwar werden die Augen geschont, weil sie sich beim Zappen nicht mehr innerhalb von Sekundenbruchteilen auf neue Werbefilme, bunte Spielshowkulissen und zu groß geratene Moderatorengebisse einstellen müssen. Doch auch am verkabelten Radio gerät man mit jedem Tastendruck auf der Fernbedienung tiefer hinein in schwachsinnige Musikrätsel, debile Schlagergrüße und schleimige Verkuppelungssendungen. Selbst der flinkeste Channelhopper entkommt auch hier den Werbeblöcken nicht. Hatten diese im Fernsehen immerhin noch den Vorteil, so manches nette Bild und so manche angenehme Farbe zu vermitteln, ist man vor den Radioboxen voll und ganz der Macht des Logos ausgeliefert. Zahlen Sie auch zuviel für Ihre Versicherung, wie die kratzbürstige Emanzenstimme vermutet? Kennen Sie etwa Seidenbacher Müsli noch nicht, wie der quietschend altkluge Erstklässler argwöhnt?

Der erste Eindruck der Radiokur: Bei Welle Fidelitas, Radio Regenbogen oder Sunshine Live herrscht derselbe Schmarrn, nur in einer noch viel quälenderen Darbietungsform als bei SAT 1, RTL 2 oder VIVA. Das wirklich Eigene, das Jodeldiplom des Radios sozusagen, ist allerdings die kühne Erfindung des Verkehrsservices – womit nicht etwa die Singlevermittlungssendungen gemeint sind, sondern die zuverlässig jede halbe Stunde wiederkehrenden Informationen über Staus, Blitzanlagen der Polizei, Gegenstände auf der Fahrbahn oder gesperrte Dorfstraßen. Und das im ganzen Sendegebiet! Zwar hat es einen gewissen Reiz zu erfahren, wo gerade wieder entlaufene Schweine oder ausgelaufene Schmierseife eine Autobahn unpassierbar machen, aber die achtstündige Wartezeit auf der Brennerautobahn oder der Stau "hinter einer Kurve" läßt nicht nur Couch-Potatoes ziemlich kalt, sondern auch all jene, die schon längst in die Massenkarambolage hineingefahren sind oder sowieso nicht einsehen, einer Umleitung zu folgen. Außerdem ist es doch keine Nachricht wert, wenn wie jeden Morgen die Infrastruktur von Stuttgart, Köln oder Heidelberg kollabiert ist.

Wo das Fernsehen jeglichen Ärger mit schönen Bildern wieder wettzumachen vermag, gleicht das Radio seine Übel wenigstens mit schönen Tönen wieder aus. Ganz besonders viel Entschädigung für die erbärmlichen Versprecher, die völlig falschen Intonationen, verschluckten Silben, verschliffenen Satzenden, für alle hysterisch lachenden Moderatoren, ihre dilettantischen Sparwitze, ihre rauschenden Telefonaktionen und ihre frühkindlichen Lebensweisheiten erfährt der treue Radiokunde, wenn kurz nach acht Uhr abends die Kuschelprogramme gestartet werden: "Kuschelwelle", "Kuschelrock" und vor allem: "Kuschelklassik"! Ach, wie ist das schön. Gegenüber den Pop- und Rockprogrammen, bei denen man mit einem Ohr zwangsläufig wieder an den Texten hängenbleibt ("I'm lonely", "You're not alone", "Ich liebe mich", "Together forever" usw.) haben die Klassiksender den eindeutigen Vorteil, daß größtenteils rein Instrumentales geboten wird. Und das ist zur "Kuschelklassik"-Stunde ganz besonders sanft. So wunderbar ertönen da melodische Mozart-Sinfonien, daß man die Lautstärke bis zum Anschlag ausschöpft, sich zurücklehnt, entspannt und genießt – bis plötzlich mit einem Höllenlärm die Parole in die Schlußakkorde fährt: "Kuschel-Klassik – zum Entspannen und Genießen!" Auf der Flucht vor weiteren Erholungsbefehlen (Vorsicht: Morgens schreit es in der "Gutelaune-Klassik" immer wieder "Guten Morgen!") schaltet man zittrig weiter, doch, o Jammer, es findet sich so schnell keine Oase der puren Musik. Keine Frequenz, auf der man nicht aufgefordert wird, per Telefon, Fax oder E-Mail (zum Beispiel "wunsch ät welle deh eh") seinem persönlichen Hit zum Tagessieg zu verhelfen oder seine Meinung zu karierten Boxershorts abzugeben. Wenn dann eine Rundfunkanstalt auch noch mit dem einfallsreichen Spruch "Der Abend im Radio" wirbt, ist der Abend schon längst im Eimer. "Ein Mann, der was zu sagen hat und keine Zuhörer findet", überlegte Brecht, "ist schlimm daran. Noch schlimmer sind Zuhörer daran, die keinen finden, der ihnen etwas zu sagen hat." Schon wahr. Aber Brecht übersah ja wohl das Schlimmste: Wenn der Zuhörer Entspannung sucht, aber nur auf Sender stößt, die meinen, ihm unbedingt etwas mitteilen zu müssen. Und manchen gefällt das!


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