Verbotene Stadt – verbotenes Land?
Rainer Kloubert:
»Verbotene Stadt – verbotenes Land?«
Zeichen im Reich der Mitte
2025, Lexikon-Oktav, Leinen im Schuber, fadengeheftet, bedrucktes Vorsatz, Lesebändchen, 272 S.
€ 65 [D] / € 66,90 [A] / sFr 88
ISBN 978-3-96160-094-6

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Buch

Dass der Kaiser von China, der in der Verbotenen Stadt lebte, der mächtigste Mann der Welt war, kann man aus den Märchen von Hans Christian Andersen erfahren. Von Kloubert erfährt man, dass der Kaiser sich nur selten in der Verbotenen Stadt aufhielt; dass seine Eunuchen hier u. a. einen Slum errichteten, in dem ein mehr als dreitausend Köpfe zählendes Gelichter den Kaiser einen guten Mann sein ließ; dass dem Kaiser zu jeder Mahlzeit einhundertundacht Gerichte vorgesetzt wurden; dass Wahrsager bei ihm ein- und ausgingen; dass er schriftliche Eingaben an den Thron nach einem bestimmten Strichcode mit seinem Fingernagel einzuritzen pflegte und seine Beamten entsprechend den Strichen einen Bescheid verfassten (was wiederum nach einem Märchen von Andersen klingt), der in Hofgazetten unters Volk gebracht wurde; man erfährt auch, wie der Kaiser mit seinen Konkubinen schlief und wie man Kotau vor ihm machte. Vor allem aber erfährt man, dass Chinesen bis heute eine völlig andere Art zu denken haben als wir — und warum dies der Fall ist.

Autor

Rainer Kloubert (geb. 1944 in Aachen) studierte in Freiburg, Tübingen, Hongkong und Taiwan Sinologie und Rechtswissenschaften. Er war u. a. Sprachlehrer an der taiwanesischen Militärakademie, Dolmetscher bei einem chinesischen Wanderzirkus und Rechtsanwalt in Taipeh. Er lebt in Peking, London und neuerdings auch in München. Im Elfenbein Verlag erscheinen seine Bücher seit 1998; am bekanntesten sind seine reich illustrierten Bände »Peitaiho«, »Yuanmingyuan« und »Peking« sowie zuletzt »Warlords«, die die Frankfurter Allgemeine Zeitung als »Pioniertat und Lesegenuss« feierte.

Auszug

Ich setzte mich in den Pavillon auf der Spitze des »Hügels der angehäuften Vortrefflichkeiten«, zog einen Führer durch die Verbotene Stadt aus der Tasche und vertiefte mich darin. Der Pavillon trug den Namen »Zur kaiserlichen Aussicht«, las ich. Ein langer Zug von Ameisen zog an mir vorbei in eine Ecke, wo eine halb aufgegessene Banane lag, eine Gottesanbeterin lauerte in der Nähe. Wiedergeburten eines Kaisers und seiner Beamten? Ich griff in meine Tasche, holte einen runden, krümeligen »Mondkuchen« hervor, biss in die süße, bis in die Zahnwurzeln dringende Bohnenpastenfüllung und vertiefte mich wieder in meinem Führer. Der »Hügel der angehäuften (oder musste es heißen: angesammelten?) Vortrefflichkeiten« — der Hügel, auf dem ich mich befand — lag nördlich des »Kaiserlichen Gartens«, an einer Stelle, an der in der Ming-Dynastie ursprünglich die »Halle zur Betrachtung der Blumen« gestanden hatte. Diese war im Jahre 1583, dem 11. Regierungsjahr des Kaisers Wanli abgerissen worden, um den »Vortrefflichkeiten« Platz zu machen. Auf seiner Vorderseite hatte ich beim Hinaufsteigen eine Grotte bemerkt, in deren Decke Drachenmuster eingeschnitten waren. Über dem Eingang stand in chinesischen und mandschurischen Schriftzügen: »Angesammelte Vortrefflichkeiten«. Es gibt eine Vielzahl von Schriftzeichen für »sammeln« — hatten in China Sammler am Anfang der Zivilisation gestanden, nicht Jäger wie im Westen? Zwei Springbrunnen in Gestalt in sich verschlungener Drachen flankierten die Grotte, über Leitungsrohre waren sie mit zwei in den Felsstücken versteckten Wasserbehältern verbunden. Die einzigen Springbrunnen in der Verbotenen Stadt, wie Spieluhren eine westliche Erfindung. Steinstufen rechts und links führten hinauf zum Pavillon »Kaiserliche Aussicht«, in dem ich jetzt saß, ganz alleine für mich, ein schönes Gefühl, unter mir die Verbotene Stadt, als gehörte sie mir.

© 2025 Elfenbein Verlag

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