Wiebrecht Ries: »Maskeraden des Auslands«
Wiebrecht Ries:
»Maskeraden des Auslands«
Lektüren zu Franz Kafkas »Process«


2011, Kart., 184 S.
€ 20 [D] / € 20,60 [A] /
sFr 36,20
ISBN 978-3-941184-13-8



Textauszug
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Franz Kafka (1883–1924) schrieb seinen Fragment gebliebenen Roman »Der Process« zwischen August 1914 und Januar 1915 nach einer beinahe zweijährigen persönlichen Krise. Diese neue, allerdings nur kurz andauernde Schaffensperiode, die nach der Auflösung seiner Verlobung mit Felice Bauer in Berlin und der Aufgabe seiner Wohnung im Elternhaus beginnt, fällt mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs zusammen.

Wiebrecht Ries (geb. 1940) ist Professor emeritus für Philosophie an der Leibniz-Universität Hannover. Nach dem Studium der Philosophie und Germanistik in Basel und Heidelberg promovierte er mit einer Arbeit zur Nietzsche-Rezeption und habilitierte sich 1974 mit der religionsphilosophischen Studie »Transzendenz als Terror« zu Kafka. 1987 publizierte er den Band »Franz Kafka« in der Reihe »Artemis Einführungen«, 2007 erschien von ihm »Nietzsche / Kafka. Zur ästhetischen Wahrnehmung der Moderne«. Zahlreiche Publikationen zu Nietzsche, zur Philosophie der Antike und zur philosophischen Hermeneutik.

Über das Buch

Kafkas erzählerisches Werk ist von suggestiver Schönheit. Von ihm geht ein faszinierender Sog aus, dem sich kaum ein Leser zu entziehen vermag. In zahlreichen Variationen zerbricht das »Ich« als ein zentrales seelisches Steuerungsorgan an der Unlösbarkeit seiner Aufgabe und geht im Traumkreis der »Maskeraden des Auslands«, dem Schrecken innerer wie äußerer Straf- und Gerichtssysteme, unter.
Die hier vorgelegten »Lektüren« – Bilanz der jahrzehntelangen Kafka-Studien des Autors – lassen die im Roman »Der Process« herrschende Traumwelt transparent werden, in der noch das ganz und gar Befremdliche als zugleich wirklich und unwirklich erscheint. Besondere Aufmerksamkeit gilt der Bildsemiotik des Romans wie den von den Gesetzen des Unbewussten gesteuerten Formen der Versprachlichung einer »Physiognomik des Seelischen« (H. M. Emrich) vor dem Hintergrund der Literatur der Moderne und ihrer Ästhetik. Ausgewählte Passagen werden in eine enge Beziehung zu Kleists, Dostojewskijs und Strindbergs Schaffen gestellt. Dieser komparatistische Zugriff auf Kafkas Roman schärft den Blick des Lesers für ein »Theater der Innenwelt« (G. Kurz), auf dem im »Process« die Verwandlung des Josef K. in den Tod inszeniert wird. Die spezifische Weise dieser Inszenierung lässt eine gewisse Nähe zu der Gattung des »metaphysischen Kriminalromans« (R. Robertson) erkennen.
Im Anschluss an moderne Interpreten werden ausgewählte Kapitel des Romans wie »Die Kanzleien« im Sinne einer von Kafka in Literatur transformierten Rekapitulation gnostischer Denkstrukturen erkennbar. Den Abschluss der »Lektüren«, die die Ergebnisse der neuesten Forschung berücksichtigen, bilden Reflexionen zum Tod in Kafkas Werk.
Textauszug:


Der »Process« fordert, die Antinomien in einem Schreibprojekt zu respektieren, das Kafka abgebrochen hat. Es muss offen bleiben, ob die vielfältigen »Sprachen« des Gerichts – das Schreien des Aufsehers, der Ruf des Domgeistlichen, das Klopfen des Hauptmanns, der Lärm der Mädchen vor der Tür Titorellis – »Hilfe« der Entscheidung zu einer Selbstwerdung oder – was nahe liegt – ihre Verhinderung in dem an Josef K.s »dreißigstem Geburtstag« eingeläuteten und am »Vorabend seines einunddreißigsten Geburtstages« endenden Prozess ist. Fest steht: Der Dichter gab das Schreiben an seinem Roman am 20. Januar 1915 auf. In einem Brief an Max Brod vom Januar 1918 hat er sich dahingehend geäußert, dass für seinen »Fall« von dem Roman als »Berufungsinstanz« keine »Hilfe« zu erwarten sei. Diese Äußerung, bestätigt durch den Satz in dem Brief vom 5. Juli 1922 an Max Brod: »Ich habe mich durch das Schreiben nicht losgekauft«, ist ernst zu nehmen. Aus Respekt vor ihr, die von Literatur nicht viel erwartet, erscheint es geboten, auf jede abschließende Anwort, was jenseits des Erzählens von einem Prozess sein »Sinn« sei, zu verzichten. Dieser Verzicht, der dem Satz des Kaufmanns Block eine gewisse Anerkennung zollt – »Sie müssen bedenken, dass in diesem Verfahren immer wieder viele Dinge zur Sprache kommen, für die der Verstand nicht mehr ausreicht« –, kennt eine Ausnahme. Das Licht, das unverlöschlich aus der Tür des Gesetzes bricht, darf nie vergessen werden. Es ist bei Kafka, so verstehe ich es, Zeichen für den Eingang in eine unzerstörbare Wahrheit, die sich vielleicht im Tod erfüllt. Wir wissen hier nichts. Aus der Literatur Kafkas lässt sich, sollten wir sie »richtig« verstanden haben, nur so viel ableiten: »unten« das Dunkel, »oben« das Licht.


© 2011 Elfenbein Verlag



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