Der Friedhof der Fernsehmorde
7. Totenacker-Spaziergang: Das "Derrick"-Archiv von Leo Lederle in Meßstetten-Oberdigisheim / Von Ralf Georg Bogner

Auch Sie sehen immer wieder gerne am Freitag Abend den alten Kriminalkommissar mit den dicken Ringen unter den Augen? Und seinen ewig jungen Assistenten Harry? Auch Sie lassen sich immer wieder gerne mit den beiden in vornehme Münchner Vorstadt-Villen bitten, wo plötzlich und unerwartet das grauenvolle Verbrechen zugeschlagen hat? Und wo der Oberinspektor dann wieder alles auflöst und klärt? Dann sollten Sie doch einmal das "Derrick"-Archiv in Meßstetten-Oberdigisheim besuchen!
Rabenstraße Nummer 4. Ein schlichtes, helles, durchschnittliches Einfamilienhaus mit einem gepflegten Vorgarten, mit einer Garage. Nur das Auto in der Einfahrt, ein ziemlich alter BMW, fällt auf. Hier wohnt, so sagt es uns das Messingschild am Klingelknopf, Herr Leo Lederle.

Der Hausherr führt uns in sein kleines Reich. Er ist wohl gegen Ende sechzig und steckt in einem grünlich-grauen Anzug, den nur ein Mann in seinem Alter tragen würde. Nimmt er die Ärmelschoner, fragt man sich, wenn er Besuch bekommt, schnell ab? Er geht schon langsam und auch leicht gebückt. Doch seine weißen Haare sind ganz voll, sein Blick, soweit man ihn noch hinter dicken Brillengläsern mal erhascht, ist flink und hat ein scharfes Leuchten.

Wir treten in einen gediegen, doch einfach eingerichteten Vorraum. Ein brauner Trenchcoat hängt verloren an der Garderobe, wir sehen eine kleine Küche, eine Eckbank, einen Tisch, massives Holz. Indes, die Tür, hinter der wir die gute Stube vermuten, eröffnet uns einen unvermuteten Anblick. "Hier ist das Archiv, das Herz meines Hauses und auch meines Lebens", sagt Leo Lederle mit kaum verhohlenem Stolz. Der weitläufige Raum wirkt wie eine seltsame Mischung aus einem behaglichem Wohnzimmer und gleichzeitig einer deutschen Amtsstube. Da ist eine etwas altmodische braune Ledergarnitur, auf einem Tischchen ein Globus zum Aufklappen für geistige Getränke, ein großes Fernsehgerät, ein stattliches Bücherregal.

Dort aber steht ein großer abgewetzter Preßspan-Schreibtisch mit zahlosen Fächern, darauf eine giftgrüne Plastik-Schreibunterlage. Auf einem behelfsmäßig eingebauten Bord schließt sich eine klapprige Reiseschreibmaschine an. Daneben erhebt sich mächtig ein riesiger hölzerner Karteikarten-Schrank mit mindestens fünfzig sauber und in verschiedenen Farben beschrifteten Laden. Die Zimmerecke ist mit weißen Kacheln verfliest und mit einem Waschbecken ausgestattet. Handtuch und Seife liegen bereit.

Herr Lederle, man sieht es, lebt nicht nur, er arbeitet hier. "Ich habe alle Folgen von ,Derrick' auf Video aufgezeichnet", berichtet er zufrieden. Er weist auf die Regale mit den vielen Lederbänden, die sich jetzt als gediegene Hüllen für Video-Cassetten entpuppen. "Keine Sendung fehlt." Von "Waldweg", 1974, bis zu "Die Nächte des Kaplans", erst kürzlich gesendet, alle 277 Folgen. "Ein hartes Stück Arbeit." Eine Zeitlang hat er auch die synchronisierten Fassungen gesammelt. Er besitzt "Derrick"-Folgen in Englisch, Italienisch, Portugiesisch, drei auf Japanisch. "Aber dann hatte die Sendung international so großen Erfolg, da hab' ich nicht mehr mithalten können", seufzt er - und scheint sich doch zu freuen.

Und hier ist die "Derrick"-Kartei. Den ehrfurchtgebietenden Schrank hat Leo Lederle, seines Zeichens Oberverwaltungsamtsrat a. D., aus dem Büro mitgenommen. "Ich war 41 Jahre im Rathaus tätig gewesen. Auf einem Amt in einem so kleinen Ort, da gibt's nur einen für die großen und kleinen Sorgen der Bürger." Er hat Meldezettel bearbeitet, Reisepässe ausgestellt, Gebührenvorschreibungen errechnet, Kopien beglaubigt. Den Bürgermeistern war er die rechte Hand. Die kamen und gingen, er blieb - bis vor neuneinhalb Jahren. Da ging auch er, etwas verfrüht - "aus privaten Gründen". Der Blick wird trübe hinter dicken Brillengläsern.

Den Karteikartenschrank, mit dem er sein amtliches Leben lang die Verhältnisse im Ort geregelt hatte, nahm er mit in die Pension. "Die haben damals gerade auf Computer umgestellt." So konnte das voluminöse Möbelstück jetzt eine neue Aufgabe bekommen. "Was immer Sie über die Krimi-Serie wissen wollen, hier ist es verzeichnet." Es gibt Register aller Sendungstitel, in der Folge der Ausstrahlung sowie alphabetisch. "Viele beginnen auf ,Mord'." Zum Beispiel "Mord inklusive", "Ein Mord und lauter nette Leute", "Dem Mörder eine Kerze". "Viele sind ganz poetisch." Etwa "Kein Ende in Wohlgefallen", "Das sechste Streichholz", "Kein schöner Tag", "Tote Vögel singen nicht". Dann gibt es da Register aller Figuren und aller Schauspieler, die sie gespielt haben, mit Querverweisen: "Sehen Sie, Anne Bennent, Martin Semmelrogge, Traugott Buhre …"

Natürlich gibt es auch Register der Mordarten: "Erschießen, Erstechen, Erschlagen …" Register der Mordzeiten: "Die meisten nehmen nachts ihr trauriges Ende …" Register der Motive: "Erpressung, Geiz, Habgier … zerrüttete Ehen sind übrigens der häufigste Grund für einen Mord." Schließlich Register der Handlungen Derricks: "Wenn er etwa die Nacht im Büro durchgearbeitet hat, rasiert er sich am Waschbecken in der Ecke. Auch das hab' ich jedesmal verzeichnet." Aber die Serie ist so vielfältig und reich, daß Leo Lederle noch lange nicht alle Aspekte erschlossen hat. Es stellen sich immer neue Fragen, und dann sieht er sich nochmals alle Folgen an und verzettelt, was es irgend noch zu registrieren gibt. Und dann gibt es ja manchmal auch noch eine neue Folge.

Der Oberverwaltungsamtsrat a. D. führt uns nun auch in die obere Etage. "Hier habe ich alles umbauen lassen", sagt er. "Seit ich wieder alleine lebe, brauche ich das erste Stockwerk sowieso nicht." Da ist ein großer, aber völlig leerer, kahler Raum. "Hier wird später einmal das Dienstzimmer von Derrick und Harry stehen. Raum 316 des Münchner Polizeipräsidiums. Wenn die Serie eingestellt gewesen sein wird. Die Türen, die Fenster, alles ist genau wie im Fernsehen." Die Möbel müssen dann nur noch richtig plaziert werden. Die beiden Schreibtische im rechten Winkel, der Stuhl, wo die Morde gestanden werden, der kombinierte Garderoben-Aktenschrank. "Alles ist vertraglich schon mit dem ZDF geregelt. Ein ,Derrick'-Museum, da waren alle begeistert gewesen." Eine Ecke ist weiß gekachelt. Da wird das Waschbecken montiert. Damit Derrick sich im Büro rasieren kann, wenn er die Nacht durchgearbeitet hat.

Herr Lederle zeigt uns nun im Garten seinen Wagen. Ein BMW 525, Baujahr 1974. "Wie der erste Wagen von Derrick." Ein dunkelgraues Modell mit schwarzen, beheizbaren Ledersitzen, mit Funktelefon. Ein komfortabler Schlitten. "Aber ich benutze den Wagen kaum. Ich arbeite ja sozusagen im Innendienst." Der jetzige Bürgermeister, sagt der Krimi-Archivar, sei froh über sein Engagement. Das Heimatmuseum ist aus Kostengründen geschlossen worden, und das "Derrick"-Archiv lockt sowieso viel mehr Touristen an. "Der Bürgermeister muß es wissen", zwinkert er uns zu, "hat die größte Gastwirtschaft im Ort." Aber die Umbenennung der Rabenstraße in Stephan-Derrick-Straße geht dem leider doch zu weit. Auch wenn Herr Lederle durch 41 Jahre die Amtsgeschäfte hier geführt hat und ihm das Rathaus kaum einen Wunsch abschlagen kann.

Wir sitzen in der guten Archiv-Stube auf der braunen Ledergarnitur. Leo Lederle reicht uns zum Abschied Kaffee in derben Steingut-Tassen mit großen Henkeln. Warum nur, so fragen wir letztendlich doch, das Interesse für eine so dunkle Seite des Lebens? Und ob ihn vor seiner Arbeit nicht manchmal grusle? Der Oberverwaltungsamtsrat a. D. zuckt mit den Achseln, seufzt, sinniert und zögert. "Wissen Sie, meine Frau ist vor zehn Jahren ermordet worden. Das war in der Nacht im Wald da drüben gewesen. Ich hab' so viel gegrübelt über diese Tat. Dann bin ich auch frühzeitig in Pension gegangen." Herr Lederle blickt lange und schweigend auf seine gepflegten Beamtenhände. "Derrick hätte den Fall gelöst. Aber der ist ja nur für München zuständig. Nicht für Meßstetten-Oberdigisheim. Die von hier haben das nicht geschafft."

Wieso gerade aber die Begeisterung für "Derrick"? Leo Lederle zeigt ein schwaches Lächeln. "Andere Serien kamen und gingen. ,Derrick' blieb. Meine Frau und ich haben das früher gerne gesehen." Er blickt langsam an sich hinab. "Ich mag Derrick. Ich glaube, wir sind uns sehr ähnlich, menschlich gesehen. Ich bin wie er jetzt wieder ein alter Junggeselle. Wir fahren denselben Wagen. Wir beschäftigen uns beide mit Morden. Und wenn ich mal die Nacht hier am Zettelkasten durchgearbeitet habe, rasiere ich mich morgens am Waschbecken in der Ecke."

Leo Lederle öffnet gerne allen Interessierten und Neugierigen nach vorheriger Vereinbarung sein Archiv der Fernsehmorde. Er bittet um telefonische Anmeldung unter (0 74 36) 61 10. Auch briefliche Anfragen zu "Derrick" werden von ihm beantwortet. Man wende sich an: "Derrick"-Archiv, c/o Leo Lederle, Rabenstraße 4, 72469 Meßstetten-Oberdigisheim. Dankbar ist der kriminalistische Archivar aber auch für Spenden: "Derrick"-Archiv Leo Lederle, Konto-Nr. 11 01 10, Sparkasse Oberdigisheim (BLZ 735 185 17). Das Archiv ist übrigens gemeinnützig und die Spenden sind voll steuerabzugsfähig.

Dieser und 14 weitere Friedhofsspaziergänge sind unter dem Titel "Totenacker-Spaziergänge. Sentimentale Reisen zu fünfzehn Friedhöfen im deutschen Südwesten" im Elfenbein Verlag erschienen.


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