Wenn Geld doch stinkt
Über die Schweiz und die "Schatten des Zweiten Weltkriegs" / Von Rafael Arnold

Die Debatte über "nachrichtenlose Vermögen" und das von der Schweizer Nationalbank (SNB) im Laufe des Zweiten Weltkriegs von der Deutschen Reichsbank angekaufte Gold hat inzwischen weite Kreise gezogen. Längst geht es nicht mehr nur um die - allerdings überfällige - Klärung von Vermögensansprüchen seitens Einlegern oder deren Erben, die vor und während des Kriegs Vermögenswerte in die Schweiz verbracht haben und seither keine diesbezüglichen Ansprüche gestellt haben, sei es, daß sie von den Nazis ermordet wurden oder aus anderen Gründen. Es geht auch nur noch am Rande um die Geschäfte, die die Schweiz mit den Machthabern in Nazi-Deutschland gemacht hat. Es geht ums Ganze. In Bausch und Bogen wird die Schweiz verurteilt, sich massiv schuldig gemacht zu haben. Die Anklage lautet: Mitschuld am Zweiten Weltkrieg und am Holocaust an den europäischen Juden. Dabei wird der Eindruck erweckt, die Schweiz habe sich seit dem Kriegsende der Verantwortung entzogen und ihre Hände in Unschuld gewaschen.

Zunächst einmal zu den Fakten: Bereits 1946 kam es unter starkem Druck der Alliierten zum sogenannten "Washingtoner Abkommen", in dem sich die Schweiz verpflichtete, 250 Millionen Franken für den Wiederaufbau Europas zu leisten. (Verlangt worden war die Herausgabe der erbenlosen Guthaben, des Raubgolds und deutschen Eigentums.) Daß dies eine symbolische Summe war und nicht die tatsächliche Höhe der damals geschätzten Vermögen, wurde allseits vermutet, aber man brauchte die Schweiz für den Wiederaufbau und die Verteilung der Gelder aus dem Marshall-Plan. Erst im Dezember 1962 kam es zu einem Bundesbeschluß über die Meldepflicht "erblosen Vermögens". Die Summe der daraufhin von den Banken angezeigten Vermögenswerte belief sich auf ca. 10 Millionen. Nach Aufteilung an eruierte rechtmäßige Erben wurde ein Drittel des aus diesen Geldern geschaffenen Fonds auf Bundesbeschluß der Flüchtlingshilfe (1,068 Millionen) und dem Schweizerischen Israelitischen Gemeindebund (2,210 Millionen) überwiesen. Man war der irrigen Auffassung, daß damit das Problem endgültig erledigt sei. Indes tauchte es 1995 erneut auf.

Im März 1995 veröffentlichte der junge Züricher Journalist Beat Balzli einen Zeitungsartikel über "nachrichtenlose Konten" aus der NS-Zeit, die bei Schweizer Banken lagern, und brachte damit einen Stein ins Rollen. Anschließend sprachen Medienkampagnen von unrechtmäßig zurückbehaltenen Summen in Milliardenhöhe. Die Schweizerische Bankiervereinigung sah sich dadurch genötigt, neue Recherchen anzustellen. Anfang Februar 1996 lautete das Ergebnis 38,7 Millionen Franken; allerdings waren darin sämtliche Vermögen enthalten - jüdische und nicht-jüdische. Dennoch kursierte bald darauf - zunächst in den USA - die Bezeichnung Shoa-Gelder. Die Summe wurde als lächerlich oder empörend klein empfunden. Daraufhin veranstaltete der US-amerikanische Senator Alfonse d'Amato, Vorsitzender des Bankenausschusses im Senat, ein erstes Hearing zu diesem Thema. D'Amato, der sich seitdem mit viel Verve und Populismus dieser Sache angenommen hat, steht nicht im günstigsten Licht. Seine Gegner werfen dem New Yorker vor, daß er die Kampagne zugunsten der jüdischen Gläubiger, die immer mehr zu einer Kampagne gegen die Schweiz wird, politisch für sich nutzen möchte - in seiner Heimatstadt leben immerhin über 1 Million Juden. Seine hemdsärmelige Art ("Raus mit dem Geld. Wir wollen es sehen.") mag man dem Amerikaner verzeihen. Daß seine Kollegin, Senatorin Boxer, bei den Hearings mehrfach von "Swedish banks" und "Swedish connection" sprach, bestätigt nicht nur ein europäisches Vorurteil, sondern schadet der Seriosität, mit der ein solcher Themenkomplex behandelt werden sollte, doch erheblich. D'Amato war es, der den Vorwurf aufbrachte, die Schweiz habe auch mit "Totengold" gehandelt - Gold, das von Personen stammt, die in den Konzentrationslagern und anderswo ermordet wurden. Die SNB ließ dazu verlautbaren, aus ihren Unterlagen gehe nicht hervor, daß ihr solches geliefert worden sei. Sie kann es aber auch nicht ausschließen, weil das Gold ja eingeschmolzen worden ist. Eines ist sicher: Beweise fehlen bis heute. Auch der sogenannte Eizenstat-Bericht, benannt nach dem stellvertretenden US-Handelsminister und seit gut einem Jahr Spezialbeauftragter des State Department für Eigentumsansprüche in Mittel- und Osteuropa, brachte hierzu keine neuen Fakten.

Während von amerikanischer (und britischer) Seite immer wieder geklagt wird, die Schweiz und ihre Banken würden immer noch nichts unternehmen, glaubt man dort, daß ihre Bemühungen zu wenig beachtet würden. Wenn nun Schweizer und Schweizerinnen gar von einer "Jüdischen Verschwörung" gegen ihr Land sprechen, ist das zwar absurd, zeigt aber auch, welche Gefahren eine Diskussion birgt, die von manchen unsachlich und sensationsgierig geführt wird. Wie grobschlächtig solche Reaktionen dann ausfallen, zeigt beispielsweise ein Buch von Harry Zweifel mit dem Titel Uns trifft keine Schuld! (der Verlag war nicht bereit, ein Rezensionsexemplar zu schicken; auszugsweise ist es über Internet erreichbar), dessen Sprachgestus ("Jüdische Bruderschaft", "Das Schandmaul des Labour-Unterhausabgeordneten Greville Janner" (Vizepräsident des World Jewish Congress) oder "Nestbeschmutzer und Verräter in der eigenen Reihe", um nur einige Beispiele zu nennen) und konfuse Argumentation einen das Gruseln lehren.

Die offizielle Schweiz hat längst auf die Vorwürfe reagiert und im Jahre 1996 einen Untersuchungsausschuß unter Vorsitz des ehemaligen US-Notenbankchefs Paul-R. Volcker gebildet. Der Bildung einer weiteren Kommission zur historischen und rechtlichen Untersuchung von Vermögenswerten aus der Nazizeit wurde am 12. Dezember vergangenen Jahres von den eidgenössischen Räten gutgeheißen. Zum Präsidenten dieser Kommission wurde Professor Jean-François Bergier ernannt. Zwischenberichte dieser Kommissionen wurden bereits veröffentlicht. Anfang dieses Jahres beschlossen die Schweizer Großbanken die Errichtung eines Fonds in der "humanitären Tradition der Schweiz" von 100 Millionen Franken für die Opfer der Naziverfolgung. Und schließlich stellt die Schweizer Bundesregierung Überlegungen an, ebenfalls einen großen Hilfsfonds zu errichten.

Wie bereits erwähnt, dreht es sich längst nicht mehr nur um die Frage nach dem Verbleib "nachrichtenlosen Vermögens". Die Geschäfte der Schweiz mit Nazi-Deutschland, Konten von Nazis, Raubgold, das in den von den Nazis besetzten Gebieten gestohlen wurde, und das "Totengold", aber auch die Schweizer Flüchtlingspolitik sind zu heiß diskutierten Themen geworden. Dabei muß angemerkt werden, daß zu diesen Themen bereits seit langer Zeit Studien vorliegen.

Warum die öffentliche Diskussion erst jetzt, über fünfzig Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, stattfindet, gibt Anlaß zum Nachdenken. Wahrscheinlich war die Schweiz, ihre öffentlichen Institutionen, ihre Banken, ihre Wirtschaft und auch die breite Öffentlichkeit nicht an einer Diskussion interessiert. Wahrscheinlicher noch ist, daß gewisse Kreise ein vitales Interesse daran hatten, diese Diskussion nicht stattfinden zu lassen. So erklärt sich, weshalb früher unternommene Aufklärungsversuche oftmals verschleppt wurden. Den Nachfahren der Kontoinhaber fehlte eine Lobby. Daß sie die Ansprüche ihrer im KZ umgekommenen Angehörigen mangels "ordentlicher Totenscheine" nicht geltend machen konnten, klingt zynisch. Und bei aller berechtigter Empörung muß doch auch betont werden, daß nicht zuletzt die strenge Wahrung des Bankgeheimnisses und die sorgfältige Prüfung von Eigentumsansprüchen seitens der Schweizer Banken, in anderen Fällen zu deren gutem Ruf beitrugen. In diesen außerordentlichen Fällen jedoch wäre ein pietätvolleres Vorgehen und mehr Fingerspitzengefühl angezeigt gewesen.

Diese Verzögerungs- und Vertuschungstaktik hat überhaupt erst zu den heftigen Vorwürfen geführt, denen sich die Schweiz nun ausgesetzt sieht. Sicher richtig ist, daß die Schweiz, hätte sie schon vor Jahrzehnten damit angefangen, ihre Geschäftsbeziehungen mit Hitler-Deutschland und ihre Flüchtlingspolitik kritisch zu durchleuchten und in der Frage der "nachrichtenlosen Vermögen" eine gerechtere Vorgehensweise an den Tag zu legen, anstatt sich mit wendigen Tricks und Geschichtsverleugnung eine uneingeschränkt tadellose Identität zusammenzuflicken, heute nicht so dastünde, wie sie es tut.

"Und so genießt eine Welt von Zuschauern in keineswegs klammheimlicher Freude", schreibt der schweizerische Schriftsteller Adolf Muschg, "wie leicht der enttarnte Musterknabe auf Trab zu bringen ist, wie ungeschickt er die goldene Nase verdeckt, die er sich am Unglück anderer verdient hat." Man spürt förmlich die Schadenfreude, die der "Zuschauer" Muschg selbst fühlt. Viele, man darf vermuten die Mehrheit, seiner Landsleute wird es nicht so empfinden. Und man muß sich fragen, auf welche Reaktion er bei ihnen mit seiner Rede "Wenn Auschwitz in der Schweiz liegt" stößt. Diese Rede ist eine Replik auf die rhetorische Frage des Bundesrates Delamuraz, ob Auschwitz in der Schweiz liege, mit der der Patriot die Schuldfrage vom Tisch kehren wollte. Im Umkehrschluß behauptet Muschg, Auschwitz sei "überall" und möchte damit ein universales Schuldbekenntnis proklamieren. Gewiß, Auschwitz mag - auf einer abstrakten moralischen Ebene - "überall" sein. Ob aber dieses moralische Diktum einer kritischen Aufarbeitung der jüngsten Vergangenheit dient, ist stark zu bezweifeln, statt dessen wird im Zeichen wohlfeiler Betroffenheit bloß nivelliert. Wie auch die "keineswegs klammheimliche Freude" die Schweizer und Schweizerinnen wohl kaum ermutigen wird, gründlich mit sich ins Gericht zu gehen. Dazu wäre viel eher hilfreich, wenn nun auch endlich andere Länder ihre Archive öffneten und sich einer kritischen Selbstbefragung stellen würden. Dazu besteht im Moment keine geringe Hoffnung.

Literatur zum Thema:

Adolf Muschg: Wenn Auschwitz in der Schweiz liegt. Fünf Reden eines Schweizers an seine und keine Nation; Frankfurt am Main: Suhrkamp 1997, kart., 64 S., 12 Mark 80. 
NZZ-Fokus: Schatten des Zweiten Weltkriegs. Nazigold und Shoa-Gelder - Opfer als Ankläger; Zürich: NZZ Verlag 1997, kart., 74 S., 16 sFr.
Harry Zweifel: Uns trifft keine Schuld!; http://www.biograph-verlag.com.
Werner Rings: Raubgold aus Deutschland. Die "Golddrehscheibe" Schweiz im Zweiten Weltkrieg; München: Piper Verlag 1996 [1. Aufl. 1984], 243 S., 29 Mark 80.
Beat Balzli: Treuhänder des Reichs. Die Schweiz und die Vermögen der Naziopfer. Eine Spurensuche; Zürich: Werd Verlag 1997, 340 S., 39 Mark 80.


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