Schwingungen über Köln
Dieter Kühns neuer Künstlerroman / Von Roman Luckscheiter

Poetische Wirkungskraft verdankt Köln neben 4711 in erster Linie dem Rhein. Zahllose Brücken spannen sich über den breiten Strom, verbinden die Metropole mit dem rechtsrheinischen Umland und bieten dem Spaziergänger ein Panorama mit Domsilhouette und Dampfschiffahrt. Besonders reizvoll, da weniger frequentiert als die Hohenzollernbrücke, liegt die Südbrücke. Dieter Kühn, der genauso zu Köln gehört wie das Schokoladenmuseum, hat sich diesen Ort als Hauptschauplatz für seinen jüngsten Roman Der König von Grönland ausgesucht und nutzt die allgemeine Brückensymbolik - das Verbindende und das Schwingende - nach Kräften aus, um der Geschichte des Ausstellungstechnikers und Grönland-Fans Wolfgang Herkenrath eine passende Atmosphäre zu geben. Herkenrath plant ein außergewöhnliches Projekt, das er "Sky Art" genannt hat: in der Nacht der Zeitumstellung zur Winterzeit soll in der Stunde des allgemeinen Stillstandes per Luftspiegelung das grönländische Nordlicht über Köln erscheinen. Dazu bedarf es freilich einiger Vorarbeiten technischer, vor allem aber telepathischer Art: Herkenrath hat Kontakt zu einer Schamanin auf der Kuhn-Insel vor Grönland, die gleich neben der Sabine-Insel liegt und - wie der Leser in der Danksagung erfährt - nach einem Vorfahren des Autors benannt ist.

Herkenraths Frau beschäftigt sich intensiv mit der Organisation der Volkshochschule Nippes, während Herkenrath selbst nach der Arbeit im Archäologiemuseum stundenlang auf Kölns Rheinbrücken und -promenaden wandert und sich inspirieren läßt. Dabei lernt er die Rollerblades fahrende Claudia kennen, mit der er spontan Walzer tanzt und die ihm als weitere Inspirationsquelle für sein Sky-Art-Projekt dient, das eben nur durch intensive Ausnutzung von Schwingungen, Wellen, Ausstrahlung und Aura funktionieren kann. Das alles klingt reichlich esoterisch, wird im Roman aber entwickelt als in sich harmonisches Alternativprogramm zum spröden Alltag der Großstadt, zu Kneipengeschrei und Prügeleien in der S-Bahn.

Der König von Grönland ist ein Künstlerroman. In ihm wird, ganz der Tradition des Wilhelm Meister entsprechend, versucht, den künstlerischen Ehrgeiz mit den Anforderungen des Alltags zu versöhnen. Was dabei schließlich herauskommt, ist in dem Zusammenhang unwesentlich: das zu erwartende Scheitern läßt der Rheinländer Kühn, anders als der Hesse Goethe, außen vor. Das Projekt, das Hinwirken auf ein selbstgestecktes Ziel ist das Thema; die Grenzen des technischen Verstandes zu überschreiten, wird dabei zum Motto, zur Aufforderung, einen poetischeren Blick nicht in fauler Romantik, sondern in emsiger Geschäftigkeit zu entwickeln. Kühn, der in seinen bisherigen Romanen bevorzugt Zeitgrenzen überschritten hat, um fiktiven oder tatsächlichen Persönlichkeiten der Vergangenheit näherzukommen, hat sich nun aufs Räumliche verlegt, um sich einmal der Gegenwart aus einer fremden Perspektive zu nähern.

Kühns Experiment ist interessant, liest sich angenehm und amüsant. Es bleibt dem Leser jedoch nicht verborgen, daß der Roman aus einer früheren Erzählung heraus geboren wurde: Vielen Passagen fehlt es zu sehr an Substanz, um das Volumen von dreihundert Seiten rechtfertigen zu können. Auch kommt Kühns Begeisterung für das Kartographische hier allzu stark zum Ausdruck, so daß der Leser mehr über Grönlands Breitengrade als über das poetische Wesen dieses Kontinents erfährt. Das steht in einem merkwürdigen Mißverhältnis zu den mystischen und esoterischen Ansätzen des Buchs. Aber vielleicht zeigt diese Mischung aus Kartographie und Schamanenkult, daß der Kölner an sich zwar experimentierfreudig ist, aber nie ganz aus dem Rahmen fallen möchte.

Dieter Kühn: Der König von Grönland. Roman; Frankfurt a. M.: S. Fischer 1997; geb., 327 S., 39 Mark 80.


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