Reality bites
Michael Hanekes Funny Games / Von Oliver Vollrath

Vor einigen Jahren geschah in Heidelberg folgendes: Im Kino "Gloriette" wurde zu einer einmaligen Gelegenheit Salò o le 120 giornate di Sodoma von Pier Paolo Pasolini aufgeführt. Im Verlauf der Vorführung leerte sich das anfangs dichtbesetzte Kino merklich, und die wenigen, die bis zum Ende des Films ausharrten, schlichen schweigsam und mit gesenkten Häuptern aus dem Saal, gerade so als seien sie bei einer verbotenen Handlung überrascht und zur Rede gestellt worden. Film ist immer Augenfutter für Voyeuristen; wer etwas anderes behauptet, hat das Kino nicht verstanden, und wenn ein Filmemacher das Kino anders auffaßt, verstößt er gegen das erste und oberste Gebot des Films: "Du darfst nicht langweilen!" Pasolinis Film hat - sieht man einmal von seinen politischen und sozialen Konnotationen ab - die vom Zuschauer eingeklagte Rolle des Voyeurs ad absurdum geführt, indem er den Punkt, an dem Zusehen unbehaglich und gefährlich wird, weit hinter sich läßt. Mehr noch als die Darstellung von Greueln scheint die wachsende Gewißheit eines fatalistischen Entwicklung maßgebend, welche keinerlei Aussicht auf Hoffnung oder auf ein Happy-End bietet. Funny Games von Michael Haneke weist ebenfalls eine solche bis an die Grenze des Erträglichen gehende Ausweglosigkeit auf; die Rezeption beim Publikum war dann auch dieselbe wie oben: Zwei der vier Zuschauer verließen vorzeitig den Vorführraum. Hanekes Zielsetzung bei der Inszenierung liegt auf der Hand: Der Regisseur trägt nicht dem Voyeurismus des Zuschauers Rechnung, indem er mittels der Genremuster der Filmindustrie das Thema "Gewalt" zu Unterhaltungszwecken aufarbeitet. Vielmehr versucht Haneke eine ähnliche Wirkung wie Pasolini zu erzielen. Die Lust am Sehen soll angeprangert werden: "Du bist schließlich der, der das sehen will" äußerte sich der Regisseur.

Bei der Beurteilung des Films Funny Games scheinen so zwei Gesichtspunkte relevant. Zum einen die Frage nach der Inszenierung einer filmischen Realität, die den Anspruch erhebt, "Gewalt so zu zeigen, wie sie in Wirklichkeit ist". Zum zweiten die Frage nach der moralischen Intention, die der Regisseur damit verfolgt. Will man ein Genre kritisieren, muß man zunächst dessen Regeln verstanden haben. In dieser Hinsicht ist Haneke nur zu loben. Teilweise brillant arbeitet er mit Vorausdeutungen und Zeichen, welche sich im Verlauf des Filmes zu dingfesten Erscheinungsformen des Terrors verdichten: Die weißen Stoffhandschuhe der Täter, der Golfsack, die unerreichbare Stimme am anderen Ende des Telefons, das einsame Auto auf der nächtlichen Landstraße. Bei aller Vertrautheit der szenischen Gestaltungsmittel zeigt sich doch bereits deutlich, wie Haneke mit Motiven und Genreregeln brechen kann. Einzelne Sequenzen des Films würden jedem Horrorstreifen zur Ehre gereichen. Der Fluchtversuch des kleinen Jungen und seine Verfolgung zitiert und zeigt zugleich wie grausam eine solche Situation sein kann, wenn die Protagonisten und die Bedrohung realistisch genug dargestellt werden. Die beiden Täter Paul und Peter agieren atemberaubend und übertreffen in ihrer Darstellung unmotivierten Sadismus die meisten ihrer Vorbilder aus der Unterhaltungsindustrie. Haneke ist es gelungen, eine mise en scène zu erschaffen, welche in ihrem krassen Naturalismus und ihrem Fatalismus das Kino als Ort des Schauens zu einem ungeschönten und unmittelbaren Abbild eines realen Alptraums verkehrt, welchem sich der Zuschauer nicht durch die Hoffnung auf eine antizipierte Wendung zum Guten und Gerechten entziehen kann sondern nur noch durch die Flucht aus der Vorstellung. Problematischer wird es, wenn der Regisseur seine bemerkenswerte Inszenierung dem Zuschauer sprichwörtlich aufs Auge drückt und zugleich seine eigentliche Absicht allzu deutlich offenbart. Da zwinkert Peter fröhlich in die Kamera, um dem Zuschauer zu signalisieren: "Ich agiere nur für dich." Ein wenig später wird der Zuschauer direkt angesprochen; dem Leiden der Opfer selbst können Peter und Paul noch kein Ende bereiten, da der Film noch unter "Spielfilmlänge" sei. Höhepunkt dieses Durchbruchs der Vierten Wand stellt der Eingriff Peters in die screen-Dauer dar: Mit dem Druck auf die Fernbedienung kann er die unvermittelte Erschießung seines Kompagnons rückgängig machen. Eine solche Technik mag im Theater ihre Berechtigung haben, im Kino indes erscheint sie fehl am Platz, da dieses zum einen seine Wirkung durch die Erschaffung einer autarken "Wirklichkeit" erzielt und zum zweiten dem Kino im Gegensatz zur Bühne die Möglichkeit der Interaktion fehlt. Hanekes hehres Ziel, den Zuschauer auf die Anklagebank zu setzen, gerät durch die Durchbrüche der filmischen Ebene in die gefährliche Nähe der Farce: Letztlich stellen diese für den Rezipienten Indizien dar, "nur" einer Filmvorführung beizuwohnen.

Natürlich sollen die genannten Elemente des Spiels mit der Ebene der Filmvorführung und der Rezeption dem Zuschauer seine Rolle als aktiver Protagonist bei der Produktion und Distribution von Gewaltfilmen vor Augen führen. Spätestens mit dieser Erkenntnis geht jedoch die Frage einher, ob der kompetente Filmemacher Haneke mit cineastisch bemerkenswerten Gestaltungsmitteln Binsenweisheiten verbreitet. Wohlwollend könnte man mit meier von einem "moralischen Rigorismus" reden, den Haneke hier praktiziert. In diesem Zusammenhang wäre interessant, auf welche Filme speziell sich Haneke bezieht. Eine kritische Auseinandersetzung mit hinlänglich bekannten Beispielen ist bereits dadurch gegeben, indem gezeigte Gewalt nicht durch einen vorgegebenen dramaturgischen Rahmen auffängt. Die mittelbare Realitätsabbildung im Kino kann so zu einer unmittelbaren Realitätsabbildung für den Zuschauer werden. Bei dem oben angeführten Salò o le 120 giornate di Sodoma vergeht dem Zuschauer die Lust am Schauen gründlich. Funny Games funktioniert weitgehend ebenso. Der Rückzug in offensichtliche Gestaltungsmittel erschwert jedoch das Eintauchen in die filmische Realität immens, wenn auch zugleich Mechanismen der Dramaturgie und Publikumserwartung bloßgelegt werden. Sollte Haneke auf diese Weise Sehgewohnheiten ändern wollen, wäre seine Naivität überraschend. Ob Funny Games beim Zuschauer eine solche pädagogische Wirkung erzielen kann, bleibt fraglich. Dem Verfasser dieser Zeilen jedenfalls konnte die wohlige Vorfreude auf Wes Cravens Scream nicht genommen werden.


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