Die Welt als böser Traum
André Téchinés Diebe der Nacht / Von Wolfgang Nierlin

Während die Titel des Vorspanns zu sehen sind, hört man ein Durcheinander von Stimmen, die alle gleiche Wichtigkeit beanspruchen und deshalb unidentifizierbar bleiben. Diesen polyphonen Zusammenklang macht der Film später zu seinem erzählerischen Konstruktionsprinzip, indem er die Chronologie der Ereignisse, die sich um die Rekonstruktion eines Todesfalls zentrieren, durchbricht und in die Mehrstimmigkeit wechselnder Erzählperspektiven auflöst. Jedoch geht es André Téchiné in seinem neuen Film Diebe der Nacht nicht um den subjektiven Wahrheitsgehalt einer Geschichte, die, wie z. B. in Kurosawas Rashomon, in einem Geflecht von Relativitäten undeutlich wird, um schließlich zu verschwinden, sondern um die Aufsplitterung der vorgeblich festgefügten Einheit in ihre diskursiven Bestandteile. Die Geschichte im Plural macht die Ränder der Erzählung zum geheimen Zentrum und die Bewegungen in Raum und Zeit zur Funktion von Beziehungen und Abhängigkeiten, von Rede und Gegenrede. Denn es wird viel gesprochen in diesem Film, der aus der Offenheit des Sagbaren die Widersprüchlichkeit und Unberechenbarkeit seiner Figuren gewinnt und in seinen komplexen Verhältnissen einem modernen Roman ähnelt, der seine Geschichte erzählt, indem er sie auf der formalen Ebene dekonstruiert und damit erweitert. So arbeitet Téchiné nicht nur mit Zeitsprüngen, Überlagerungen und erzählerischen Perspektivenwechsel, sondern auch die szenische Auflösung in den Einstellungen führt die beziehungsreiche Unsicherheit des Standorts vor.

Vielleicht ist das Stimmengewirr des Vorspanns ein Bestandteil des Traums, den der kleine, frühreife Justin (Julien Rivière) zu Beginn des Films träumt und der mit einem Schrei endet. Vielleicht kommt dieser Schrei aber auch aus der Wirklichkeit. Denn im Wohnzimmer der Savoyer Berghütte liegt der getötete Vater des Jungen aufgebahrt und unter einer Decke verhüllt, weil das Verbrechen unentdeckt bleiben soll. Aber das Kind hat seine Unschuld längst verloren, und als Justin sich der Pistole des Vaters bemächtigt, ist das keine Entdeckung, sondern eine Erbschaft. Wenn er später wie besessen in einer Jahrmarktsschießbude einen Schuß nach dem anderen abfeuert, ist das bereits ein Vollzug, von dem die Budenbesitzerin meint, es sei eine Krankheit.

Allmählich werden die Stimmen den Figuren zugeordnet. Alex (Daniel Auteuil), der Bruder des Getöteten und nicht nur als Polizist sein Antipode, ist ein Misanthrop: Er will keine Kinder in eine Welt setzen, die ihm als böser Traum erscheint; er verachtet die Jugend und verträgt keine Nähe - weder in seiner früheren Ehe, die jetzt geschieden ist, noch in seiner sexuellen Beziehung zu Juliette (Laurence Côte), die er in wechselnden Hotelzimmern trifft. Darüber sagt er: "Wir waren verbunden in einem Gefühl tiefer Verachtung und das gab unserer Lust Raum." Dazu paßt, daß er den Geschlechtsverkehr nur bekleidet vollzieht und unter einem Waschzwang leidet. Aber sein Haß auf das Leben verzeichnet auch Einbrüche, sein rationaler, schonungsloser Blick auf die Welt ist Anfechtungen ausgesetzt. Dann spricht er davon, daß er sich allein fühle wie ein Verirrter.

Denn Juliette, die schließlich alle verläßt, ist jung, unbändig wild und alles andere als berechenbar. Ihre Orientierungslosigkeit birgt eine fast triebhafte Gefährdung. Weil sie vor Alex mit dessen kriminellem Bruder Ivan (Didier Bezace) ein Verhältnis hatte und darüber hinaus mit ihrer Philosophieprofessorin Marie (Cathérine Deneuve) schläft, ist Alex einem doppelten Kontrollverlust ausgesetzt.
"Juliette ist ein Wesen auf der Flucht", sagt Marie, die Juliette liebt und anhand von Tonbandaufzeichnungen ein Buch über sie schreibt, das sie am Schluß für Alex bestimmt. Als dieser das Manuskript erhält, ist Marie bereits tot. Ihr Schicksal ist die Liebe aus Leidenschaft, die das Nichts dem Verzicht vorzieht: "Selbstmord aus Begeisterung" sagt Téchiné dazu. Kurz zuvor sieht man Marie und Alex beim Besuch von Mozarts Zauberflöte.

Téchinés Geschichten markieren die unmerklichen Bewegungen zwischen Stillstand und Aufbruch ohne falsche Hoffnungen: Am Anfang steht die andauernde Wirklichkeit einer verlorenen Unschuld, einer Ernüchterung, mit der sich die Figuren arrangieren oder der sie sich entziehen. Dabei scheint Veränderung kaum möglich, weil das Leben die Menschen nicht ansieht und weniger eine Frage der Wahl als der Deutung ist.

Die noch junge Witwe Mireille (Fabienne Babe) verliebt sich noch einmal: Jimmy (Benoît Magimel), Juliettes Bruder, ist kriminell und jung. Als er den kleinen Justin auf dem Motorrad mitnimmt und ihm ein paar Zaubertricks vorführt, scheint für einen Augenblick der Fluch gebannt und die Kindheit entdeckt: "Er hat nicht viel geredet, aber es war nicht langweilig mit ihm", kommentiert Justins Stimme aus dem Off.


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