Riço Direitinho: Das Haus am Rande des Dorfes
José Riço Direitinho:
»Das Haus am Rande des Dorfes«
Erzählungen
Aus dem Portugiesischen von Boris Planer
1997, 2. Aufl. 2000, geb., 144 S.
€ 18 [D] / € 18,60 [A] / sFr 26
ISBN 978-3-932245-04-6
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Autor

José Riço Direitinho, geboren 1965 in Lissabon, studierte Agrarwissenschaft und Landwirtschaftliche Soziologie. Für seine literarische Produktion erhielt er zahlreiche Preise, unter anderem 1994 den Grande Prémio de Romance e Novela des portugiesischen Schriftstellerverbandes A.P.E. Übersetzungen in andere Sprachen ließen ihn zu einem Hauptvertreter der neuen Schriftstellergeneration Portugals werden. Ebenso erschienen: »Brevier der schlechten Gewohnheiten« (1997), »Kerker der Engel« (2000) und »Willkommen in der Finsternis« (2006).

Auszug

Die Luft roch nach geschmolzenen Kerzen

»Die meisten Menschen sterben erst, wenn ihr letzter Augenblick gekommen ist, andere verbeißen sich schon zwanzig Jahre vorher in den Tod, und manchmal sogar noch früher. Sie sind die Unglücklichen dieser Welt.«
Louis-Ferdinand Céline, Reise ans Ende der Nacht
Seit nahezu vierzig Jahren war er jeden Tag am frühen Abend zu dem alten Olivenbaum auf dem Schulhof zurückgekehrt. An diesem Olivenbaum erhängte er sich schließlich vor den neugierigen und entsetzten Blicken der Kinder, die an jenem unvergeßlichen Nachmittag, an dem die Luft im Umkreis von zwei Meilen nach geschmolzenen Kerzen und Wollkraut roch, auf den mit Kot vermischten Urinfleck starrten, der ihm noch eine Stunde, nachdem er zum letzten Mal gezuckt hatte, die Hosen besudelte.
Er war immer übertrieben parfümiert und vorschriftsmäßig gekleidet gekommen. Seit vierzig Jahren hatte er jeden Tag eine frische Kamelie am Revers getragen. »Es sind die einzigen Blumen, die keinen Geruch haben, deshalb benutzt man sie auch in den Bordellen«, pflegte er zu sagen, »damit die teuren Düfte nicht ruiniert werden. Ein verliebter Mann muß sich immer wie eine Hure anziehen.«
An dem Tag, an dem er sich erhängte, ging er auf den Friedhof und legte einen vertrockneten Strauß Blumen auf Evas Grab, die an diesem Tag beerdigt worden war, vormittags, nur wenige Stunden, bevor die Drosseln sangen, um dann seinen Tod zu verkünden. Als er vom Friedhof zurückkam, machte er einen Abstecher in die Taverne. Eine kurze Weile stand er gegen die Theke gelehnt und drehte nachdenklich das bläuliche Portweinglas zwischen den Fingern. »Fast vierzig Jahre lang habe ich darauf gewartet, ihr diesen Blumenstrauß zu schenken«, sagte er, bevor er hinausging, mit vor Wut zitternder Stimme. »Schade nur, daß sie ihn erst nach ihrem Tod angenommen hat. Jetzt hat das Warten keinen Sinn mehr.«
Eva hatte neben der Kapelle gewohnt, einem nahezu verlassenen Ort außerhalb des Städtchens, wo er lebte. So hatten sich ihre Wege fast vier Jahrzehnte hindurch nur selten gekreuzt, und wenn es geschehen war, hatten sie nicht miteinander gesprochen. Beide hatten gewußt, daß sie dies an keinem anderen Ort als dem, für den sie sich vor nun vierzig Jahren verabredet hatten, tun durften. Dem Ort, wo er noch jeden Tag am frühen Abend auf sie wartete.
Seit dem Tod ihrer Mutter hatte sie immer allein gelebt, hingebungsvoll damit beschäftigt, den Heiligen der Kapelle Gewänder zu nähen oder die Schäden auszubessern, die die Jahre und die fromme Inbrunst der Prozessionen und der Gelübde daran angerichtet hatten. Sie tat, was sie nur konnte, um die Kapelle reinlich und würdig zu halten. Sie wachste den Boden, polierte das Weihrauchfaß, das Räucherschiffchen und die Silberleuchter auf dem Hochaltar und wechselte täglich die Schwertlilien in den Vasen aus, die das Bild der Heiligen Jungfrau umrahmten.
An dem Tag, an dem sie starb, war sie in aller Frühe aufgestanden. Sie hatte ein Bad genommen im Holzkübel neben dem Kamin, in dem noch ein wenig heiße Asche vom Vortag glühte, die sie im Winter morgens nicht löschte. Nach dem Bad verließ sie das Haus und ging zur Kapelle. Sie nahm sich für alle Arbeiten ein wenig mehr Zeit als gewöhnlich, und alles wurde sauber und rein. Als der Priester kam, fand er sie tot vor dem Bild der Heiligen Jungfrau. Ihre Hand unklammerte zwei welke Schwertlilien, und auf ihrem Gesicht lag die gelassene Heiterkeit, die er an ihr erblickt hatte, als sie vor vierzig Jahren das Treffen auf dem Schulhof verabredet hatten.
Damals war sie ein fröhliches Mädchen gewesen, das wenige Jahre zuvor von der Schule abgegangen war. Er hatte sie zwei- oder dreimal gesehen, wenn sie in das Städtchen herunterkam und den Nachmittag über stickend im Garten der Großmutter saß. Nach zwei oder drei schlaflosen Nächten nahm er allen Mut zusammen und warf den beiden riesigen Hunden, die am Tor zum Anwesen der Großmutter Wache hielten, ein großes Stück Fleisch hin, das er in einem Sud aus Wollkraut und anderen giftigen Pflanzen gekocht hatte. Er wartete einen Augenblick, dann konnte er hineingehen, ohne aufgehalten zu werden. Er trat zu Eva, senkte den Blick auf die Höhe ihrer Augen und wußte sogleich, daß sein schnell gefaßter Entschluß unabänderlich war. Er zweifelte nicht, daß er dieses Blau niemals vergessen würde. Sie ließ den Stickrahmen, an dem sie arbeitete, fallen und wandte ihren Blick ab. Von da an fühlten beide, daß dies der einzige Augenblick war, für den sich zu leben gelohnt hatte. »Ich will für immer bei dir sein, und wenn ich ein halbes Leben lang darauf warten muß«, sagte er zu ihr, während er den Rahmen und die Sticknadel vom Boden aufhob. »Ich werde morgen am Olivenbaum auf dem Schulhof auf dich warten.«
Auf dem Heimweg pflückte er in den schönsten Gärten des Städtchens einen Armvoll Dahlien, Tulpen, Schwertlilien und auch eine Rose. Vierzig Jahre später, als er an dem Morgen des Tages, an dem er sich erhängte, auf den Friedhof ging, legte er diesen Blumenstrauß, den er über vier Jahrzehnte in Tränen und Essenzen, die den Verfall aufhalten, aufbewahrt hatte, auf Evas Grab.
All die Jahre hindurch, in denen er auf sie wartete, weigerte er sich, das Städtchen zu verlassen - aus Angst, den Augenblick zu versäumen, in dem Eva sich entschließen würde, für immer bei ihm zu bleiben. Die Nachricht, daß sie gestorben war, machte ihn froh, denn er erkannte, daß dies letztlich die Form war, die das Schicksal ihrer beider Liebe bestimmt hatte: Seite an Seite würden sie in der Friedhofserde ruhen. »In ein paar Jahren, wenn wir zerfallen sind«, dachte er, »wird sich mein Körper mit ihrem vereinigen. Ich habe immer gewußt, daß das unausweichlich geschehen würde.«
An diesem unvergeßlichen Nachmittag kleidete und parfümierte er sich, wie er es immer getan hatte, suchte sich die schönste Kamelie aus dem Garten, nahm einen Strick und machte sich auf den Weg. Da fingen in den Gärten ringsumher die Drosseln an zu singen. »Scheißvögel«, rief er, die Augen voller Wasser, »daß ihr so lange gewartet habt!«

Pressestimmen

»Direitinhos Erzählungen, gruselig gut übersetzt, sind von atemberaubender Einfachheit und Geschlossenheit. Sie sind Antilegende: Folklore gegen den Strich. Wir werden süchtig nach diesen Geschichten.«
(Henry Thorau, Die Zeit)

»Riço Direitinhos Erzählungen, gruselig gut übersetzt, sind von atemberaubender Einfachheit und Geschlossenheit. Sie sind Antilegende: Folklore gegen den Strich. Wir werden süchtig nach diesen Geschichten.«
(Henry Thorau, Die Zeit)

»Thematisch barock, ohne ausschweifende Schnörkel, präsentiert Riço Direitinhos rigide Erzählökonomie radikale Taten und Befunde ohne Erklärung. Riço Direitinho hat nicht nur ›Spaß am Erzählen‹, er kann es - besser als viele.«
(Hans-Peter Kunisch, Süddeutsche Zeitung)

»Riço Direitinhos Erzählungen sind durch die Bank tödlich-surreale Geschichten, die der Portugiese stilvoll und gekonnt erzählt; mitunter erinnern sie an die schaurig-abgründigen Geschichten des Italieners Tommaso Landolfi oder an die phantastischen Traumderivate des Franzosen Marcel Béalu. Daß dieser Mann ein geborener Erzähler ist, der viel Feinsinn für das Detail besitzt, hat er hier nachhaltig unter Beweis gestellt.«
(Thomas Laux, Neue Zürcher Zeitung)

© 1997 Elfenbein Verlag

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