Zwischen Atavismus und Futurismus
Versuch einer Phänomenologie des Techno / Von Felix Wiesler

Techno ist ohne Zweifel die Neuerung in der Popmusik der neunziger Jahre gewesen. Was Mitte der Achtziger mit Kraftwerk begann, hat in den Love-Parades, Goa- und Flughafen-Raves seinen Höhepunkt gehabt. Eine Jugendbewegung wie andere? Eine weitere Perle an der endlosen Kette der Popmusikgeschichte?

Nein - beim Techno scheint doch einiges anders gelaufen zu sein: Mit keiner anderen Jugendmusik ging eine solch unpolitische Haltung einher - nicht mit dem Jazz, nicht mit dem Rock 'n' Roll, nicht mit dem Beat, ja selbst der Punk hatte mit seiner "Null Bock"-Message wenigstens etwas zu sagen. Techno hat keine Message, sondern nur Form. Und diese scheint den Ravern einiges zu sagen zu haben.

Und noch etwas ist anders: Bisher hat sich die ältere Generation über die neue Musik aufgeregt, sie verteufelt. Über Techno haben alle nur den Kopf geschüttelt. Bebop konnte man offenbar für "Urwaldmusik" halten, Rock 'n' Roll als Gefahr für die Jugend sehen, Punk konnte man barabarisch finden - Techno kann man einfach nicht verstehen.

Keine andere Jugendmusik hat so einen großen Bruch mit der Tradition vollzogen, wie Techno. Bisher ließ sich eine Linie vom Blues, Rythm & Blues, Rock 'n' Roll, Soul, Beat, Rock, Hardrock, Heavy Metal, Punk bis zum Hardcore ziehen. Aber Techno? Techno hat mit all dem gar nichts mehr gemein: nicht die Instrumente, nicht die rhythmische Struktur, nicht die Harmonien, nicht die Melodie. Techno hat bei null angefangen.

Erstaunlicherweise fallen dabei zwei Tendenzen zusammen: der hyperreale Alles-ist-möglich-Futurismus und ein aufklärungsdialektischer Rückgriff auf die archaische Musikform der rhythmischen Kollektiv-Ekstase. Es ist geradezu paradox, daß die Musik, die einerseits Modernität und technischen Futurismus propagiert (sich selbst ja "techno" nennt) mit dieser Computermusik uralte Kultformen wiederbelebt. Die kalte, gefühllose Technik wird umgedeutet als Möglichkeit zur Ekstase, Technik als Ausstiegschance aus der ungemütlichen Wirklichkeit der Technik!

Natürlich gibt es nicht nur den ekstatischen Techno der Raves, sondern auch "Ambiance", sphärenklingende Klangräume ohne Anfang und Ende. Doch hier ist die Sachlage nicht weniger paradox: Die Technik, von der vorhergehenden Generation fäschlicherweise als Entfremdungsförderer und kalt-rationalistischer Kreativitätskiller mißinterpretiert, wird hier zum Wolkenmeer, in dem die Phantasie erst richtig fliegen lernt. Anstatt dem von vielen vorausgesagten (oder doch zumindest erhofften) Sturm auf die Maschinen und Computer machen die Nichten und Neffen der Günther-Anders-Generation plötzlich das Gegenteil: sie schreien nach Technik, ja sie unterwerfen sich begeistert dem Rhythmus der (Musik-)Maschinen. Wer kann sich da wundern, daß den Alten die Haare zu Berge stehen angesichts einer Generation, der jedweder theoretische Überbau ein Graus ist. Ihre Kinder schreien nicht mehr nach Freiheit von Technik, sie suchen Freiheit durch Technik: im Kontrollverlust, im "Abheben", im "Nicht mehr bei sich sein", im musikalischen Rausch.

Ähnliches gilt übrigens für das Verhältnis zur Chemie-Industrie. Während die Generation der birkenbestockten und in gewaltfrei gehäkelten Wollpullis (von glücklichen Schafen!) eingepackten Müslis sich jede Anreicherung ihrer Nahrung durch Chemie verbeten haben, futtert die Techno-Generation Pillen. Die Umwertung aller Werte.

Politik ist bei Techno mega-out. Man versuche sich ein Techno-Stück mit politischem Inhalt vorzustellen. Unmöglich. Ekstase oder Träumerei vertragen sich nicht mit Reflexion. In der neuen Unübersichtlichkeit nach dem Ende der Ideologien weiß sowieso keiner, was er politisch sagen soll. Die großen Fragen sind (scheinbar?) vorbei, die Grünen bürgerlich, und die realen Verwaltungsproblemchen sollen die Berufspolitiker gefälligst selber lösen. Der Tanz auf dem global-sozialen und ökologischen Vulkan verträgt keine Zwischenpausen - im Gegenteil: immer schneller muß man dem Fin-de-siècle-Fest hinterher jetten. Zum Rave nach Goa, zu alten Maya-Tempeln, oder wo sonst gerade geraved wird.

Doch gehen wir noch einmal einen Schritt zurück: Was läßt sich über die Musik als solches, außerhalb des Kontexts, sagen? Techno weist drei wesentliche Merkmale auf: 1. Kaum Sprache, 2. Kaum Melodie, 3. Die totale Dominanz des Rhythmus.

Doch wenn beispielsweise Karl Bruckmaier in der Süddeutschen die Sprachlosigkeit des Techno bejammert, dann ist das so sinnvoll, als würfe man einem Jazzer vor, er würde immer an der Melodie vorbeispielen. Sprachlosigkeit allein kann ja wohl kein Kriterium sein. Sprachlose Unterhaltungsmusik hat es immer gegeben, und angesichts des Dauergelabers braucht man sich nicht zu wundern, wenn die Leute wenigstens am Feierabend kein Geschwafel mehr hören wollen. Sprachlosigkeit mit Dummheit gleichzusetzen scheint doch etwas kurz gegriffen. Die Jazzer argumentieren umgekehrt: Man müsse schon blöd sein, wenn man Worte brauche, um das Stück vor Langeweile zu retten.

Bedenklich scheint die Sache erst, wenn sie mit dem Verlust der Melodie einhergeht. Denn ein Rhytmus allein sagt wirklich wenig. Damit bürdet sie dem Rezipienten natürlich eine enorm niedrige hermeneutische Arbeit auf: Dylan, Cohen und Chesnut-Texte sind bedenkenswert; Mahler, Schönberg, Coltrane sind konzentrationsbedürftig; Techno ist weder noch. Und wenn er nicht als neo-archaische Ekstase-Technik genutzt wird, ist er der unanstrengendste Hintergrunds-Soundtrack zum postmodernen Lebens-Film. Oder, wie Eco so schön sagt: "Man hört Musik nicht mehr als Musik, sondern als Geräusch."

Doch bei all dem darf man eines nicht vergessen: Techno ist Kunst, zumindest teilweise. Womöglich abstumpfende und gehirntötende, vielleicht auch phantasieanregende und noch nie dagewesene Kunst, aber in jedem Falle Kunst. Bei so manchem polyrhythmischen Techno-Klängen fühlt man das Gehirn doch aufs wunderlichste massiert.


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