Verwirrter Prophet, sinnlicher Asket
Zum 50. Todestag von Klaus Mann / Von Sven Limbeck
In: metamorphosen 28 (1999), 50-52.


"Aber da Zäuberlein sich zum Gehen wandte, fragte Andreas noch höflich: ‚Entschuldigen Sie, wenn ich unzart bin: darf ich fragen, ob Sie sich jetzt mit Goldsuchen beschäftigen?' – Der Doktor hob mit einer zuckenden, grotesken Bewegung beide Hände zur Abwehr. ‚Ich bitte Sie', sagte er und schnitt eine Grimasse, ‚ich suche den Stein des Weisen.'"

Grotesk ist ein Zauberwort der Zeit: In die Mitte seines ersten Romans Der fromme Tanz (1926), der Irrfahrt und Wegsuche seines jugendlichen Protagonisten Andreas Magnus durchs Berliner Halbweltmilieu schildert, schneidet der Autor Klaus Mann eine groteske Idylle: das ländliche Stift der Hofrätin Gartner und ihres achtzehnjährigen Liebhabers Niels, in den nun seinerseits Andreas sich verliebt und so die Idylle zerstört. Andreas ist nicht nur – wie eine Vielzahl seiner Romanhelden – Selbstporträt des Dichters, sondern gemäß dessen Willen ein Repräsentant seiner Generation: "Ausdruck, Darstellung und Geständnis dieser Jugend, ihrer Not, ihrer Verwirrung". Letzteres, die Verwirrung, bringt Klaus Mann auf naiv-charmante Weise durch eine unentschiedene Stilmischung von impressionistischem Dekadentismus und groteskem Expressionismus zum Ausdruck. Zum Personal des Gartnerschen Landsitzes zählt jener Goldsucher Doktor Zäuberlein, im wahren Leben nicht Z., der Vater, sondern der dichtende Alchemist Alexander von Bernus, einstiger Besitzer des Stiftes Neuburg bei Heidelberg. Und so erinnert die Landepisode in Klaus Manns Romanerstling an eine Heidelberger Episode im Leben des vor fünfzig Jahren verstorbenen Autors.

Als Achtzehnjähriger hatte Klaus Mann "passiven Widerstand" gegen das Abitur ("Zeitverschwendung") geleistet, indem er sich "zu Bette legte und die Familie wissen ließ", er befände sich "inmitten einer schweren psychischen Krise". Die Eltern wollten indessen seine Berufswahl Tänzer bzw. "Bewegungskünstler", wie es in der Autobiographie Der Wendepunkt heißt, nicht akzeptieren. Und daher wurde der widerständige Sprößling auf eigenen Wunsch in den "wunderlichen Kreis" der Familie Bernus auf Stift Neuburg verfrachtet, wo der Hausherr Tinkturen nach den Rezepten des Paracelsus fabriziert, und Tischgespräche über Seelenwanderung, Erzengel und Poltergeister zu den Alltäglichkeiten zählen. Inmitten der "kuriosen Menschen" auf dem Stift übt sich Klaus Mann in seiner Zelle von dichtem Zigarettenqualm umgeben und mit rotgeränderten Augen in Dichterposen, erstrebt schreibend die Symbiose von Mönch und Tänzer. Der Künstler- und Intellektuellenszene des damaligen Heidelberg, wo die Droschkenkutscher vom Bahnhof Gundolfs Worten zufolge schon den kosmogonischen Eros diskutieren, bleibt Klaus Mann fern. Zwar verehrt er in Stefan George einen "Führer der Jugend", die sich Führungsansprüchen freilich widersetzt (jedenfalls, solange sie sich noch nicht von einem anderen ‚Führer' verführen läßt), doch Strenge des Intellekts und kühles Formbewußtsein werden zeitlebens seine Sache nicht sein. In Heidelberg schließt er sich einzig Ernst Robert Curtius, des "charmante Munterkeit" ihn anzieht, kurzzeitig an. Die Heidelberger Episode ist gleichwohl einer der zahlreichen Wendepunkte in Klaus Manns Biographie, denn hier entstehen jene literarischen Arbeiten, mit denen der junge Autor wenig später debütieren wird.

Die Verwirrung, das Grundthema von Klaus Manns Frühwerk, ist ein Produkt aus materieller Genügsamkeit und Auflehnung gegen die bürgerliche Wohlanständigkeit und damit das Problem einer nur schmalen Schicht von Jugendlichen der zwanziger Jahre. Aber für Klaus Mann schafft die Verwirrung einen Freiraum von enormer Ausdehnung, in dem er sich allem zu öffnen vermag, was die bürgerlichen Einengungen der Väterwelt aufzubrechen in der Lage ist: der Bewußtseinserweiterung durch Drogen, den Engelserscheinungen einer quasi-religiösen Mystik, der politischen Utopie (etwa in Gestalt von Richard von Coudenhove-Kalergis Pan-Europa-Idee), dem fin-de-siècle-haften Todeskult, dem neuen und Körpergefühl und Ausdruckstanz, den diversen Spielarten der Erotik, die von einer keuschen Knabenliebe zu einem Mitschüler namens Uto, über die spielerisch-inzestuöse Bindung an die Schwester Erika und die projektierte Eheschließung mit Pamela Wedekind zum anonymen Sex mit Münchner Strichjungen in rasantem Wechsel durchexerziert werden. Nicht nur in solcher Experimentierfreudigkeit oder zupackender Unentschiedenheit äußert sich Klaus Manns Verwirrung, sondern auch in der irisierenden und selbstinszenatorischen Posenhaftigkeit seines frühen literarischen Œuvres. Letztendlich verschafft sie ihm einen inneren Reichtum an Erlebnissen, Bildern, Visionen, Überzeugungen und Ideen, der einen Schlüssel zur Vielgestaltigkeit seiner notwendigerweise immer unvollkommen, unfertig und unvollendet geblieben Schriftstellerei bietet: Die erfahrene Gewißheit der grenzenlosen Vielfalt von Gestaltungsmöglichkeiten und Lebensentwürfen verbindet sich mit der Absage an die Perfektibilität des Kunstwerks.

Klaus Manns innerer Reichtum macht ihn auch immun gegen den totalitären Anspruch von Ideologien. Daß er frühzeitig und voller Hellsicht die Gefahr des aufkommenden Nationalsozialismus begreift, im Augenblick der "Machtergreifung" Hitlers Deutschland verläßt und in der Folge wachsam und zähl Diktatur und gleichgeschalteten Staat zunächst literarisch-publizistisch, dann als Soldat der U.S.-Armee bekämpft, ist nicht einer wundersamen Wandlung des sorglos-unpolitischen Jünglings zum mannhaft-engagierten Antifaschisten geschuldet, sondern logische Konsequenz aus Klaus Manns strikter Verwahrung gegen die Pächter der Wahrheit und Wohlanständigkeit.

Wer von Klaus Mann spricht, kann nicht den Schriftsteller vom Lebenskünstler trennen, nicht das Werk ohne die Biographie würdigen oder begreifen. Dem Versuch, den Selbstmord von 1949 in Cannes zu deuten, bietet sich daher nicht die Alternative Verzweiflungstat oder politischer Akt: Der Freitod ist die Konsequenz der lebenslangen Todessehnsucht, des Scheiterns und der Resignation, der Klaus Mann in seinem letzten Essay Die Heimsuchung des europäischen Geistes doch noch einen Sinn als Protest gegen den Kalten Krieg abgewinnen will: "Eine Selbstmordwelle, der die hervorragendsten, gefeiertsten Geister zum Opfer fielen, würde die Völker aufschrecken aus ihrer Lethargie."

Nach seinem Tod bleibt sein Werk zunächst vergessen. Sieht man von dem lächerlich begründeten Verbot des Mephisto 1966 in der Bundesrepublik ab, beginnt eine ernsthafte Auseinandersetzung mit Klaus Manns Romanen erst wieder Ende der sechziger Jahre in der DDR. Freilich, das Verdienst der DDR-Germanistik (und des Aufbau-Verlags) um die Wiederentdeckung des Exilschriftstellers Mann beruhen auf dem ideologischen Mißverständnis, insbesondere die Romane Flucht in den Norden, Mephisto und Der Vulkan seien, weil sie sich gegen den Nationalsozialismus wenden, auch politische Literatur. Eine einseitige Fehlinterpretation, die sich bis heute hartnäckig hält, wenn man etwa die vermeintliche ästhetische Mangelhaftigkeit dieser Werke mit der politischen Gesinnung des Autors zu entschuldigen sucht. Klaus Manns literarische Leistung läßt sich aber nur dann einigermaßen gerecht ästimieren, versteht man seine Romane, Erzählungen, Dramen, Autobiographien, Essays und Tagebücher als einen offenen Text, der beständig versucht, eine bedrohte, krisenhafte Existenz in die Vielfalt literarischer Formen und Themen zu übersetzen – adäquat bis in die Flüchtigkeiten der schriftlichen Ausführung. Das Politische ist dabei ein Thema, das ihm seine Zeit, ohne ihn zu fragen, vorgeschrieben hat. Es fügt sich in diesem Œuvre zu Erotik, Spiritualität, Drogenabhängigkeit, Ästhetik und Künstlertum. In seiner Gesamtheit gesehen ist Klaus Manns Schriftstellerei auf eine Synthese all dieser Themen hin angelegt und bildet das Scheitern dieser Synthese ab. Der Autor schreibt sich mit der Desillusionierung der romantischen Idee von der Allverwobenheit des Historischen, Politischen und Ästhetischen in die moderne Literatur Europas. So gesehen birgt die Lektüre von Klaus Manns Werken das Abenteuer, sich auf einem subjektiven commentaire fleuve über Ideen und Irrtümer, Gestalten und Geschehnisse sowie Alltäglichkeiten und Katastrophen eines knappen halben Jahrhunderts unserer Geschichte treiben zu lassen.

Über Leben und Werk von Klaus Mann informiert jetzt profund, kenntnisreich und schnörkellos Nicole Schaenzler: Klaus Mann. Eine Biographie. Frankfurt a. M./ New York: Campus 1999. Geb., 464 S. 48 Mark.


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