Alraunwurzel, Schlangenhaut, Krötenurin
Eine portugiesische Entdeckung für den Bücherherbst: José Riço Direitinho / Von Christian von Zimmermann

Portugiesische Geographie - weitab von Lissabon und Porto, weitab von den Stränden des Atlantiks: Im Nordosten Portugals liegt inmitten einer grünen Berglandschaft die Kleinstadt Bragança, die mit ihren knapp 15 000 Einwohnern für einen weiten Umkreis das Zentrum darstellt. Sie liegt in der wenig märchenhaften Region Trás-os-montes, also Hinter-den-Bergen, einer der ärmsten Provinzen der Europäischen Gemeinschaft, deren nördlicher Teil gegen die spanische Grenze hin vom Parque Natural de Montezinho eingenommen wird. Dort irgendwo liegen die Schauplätze der Erzählungen des Bandes Das Haus am Rande des Dorfes und des Romans Brevier der schlechten Gewohnheiten, mit denen der portugiesische Schriftsteller und Agrarwissenschaftler José Riço Direitinho (* 1965) in diesem Herbst die trostlose Bühne des deutschen Buchmarktes betritt.

Direitinhos erste Buchpublikation, der Erzählungsband A Casa do Fim (1992), ist soeben - um zwei Erzählungen bereichert - im Heidelberger Elfenbein Verlag deutsch erschienen. In den zwölf bis auf die Titelerzählung sehr kurzen Texten liefert der Autor eine neue Variante des Phantastischen: Das Phantastische liegt - so wissen wir spätestens aus der Lektüre der Erzählungen Julio Cortázars - nicht so sehr in einer unerhörten Begebenheit oder dem Erscheinen einer unwirklichen Entität. Es beruht vielmehr auf der Logik einer anderen Ordnung, welche die Wirklichkeit durchscheint und schließlich durch eine überzeugendere Realität zu ersetzen droht. Eine solche Ordnung legitimiert die ungeheuerlichen Ereignisse in Direitinhos Erzählungen. Die für sich unglaublichen Vorgänge werden eingebettet in eine traditionelle Vorstellungswelt des Volks- und Aberglaubens, in welcher das Zufällige in eine zwingende Ereigniskette überführt wird, die sich dem Zugriff der Figuren entzieht. Der Einzelne scheint seiner Verantwortung vollständig enthoben zu sein, da er sich Kräften ausgeliefert sieht, die der Mensch - obschon er sie sich nutzbar macht (Heilkräuter, Beschwörungen) - nie beherrscht. In den Erzählungen sind es etwa Gerüche, die zwanghaft Handlungen auslösen: Sie überführen einen Mörder, sie erinnern an den verschuldeten Selbstmord des Vaters oder lassen eine Frau fünfzehn Jahre in der Gewißheit warten, daß der Mann, der sich mit dem Geruch der Melisse eingestellt hat, sie eines Tages heiraten werde. Die merkwürdigen Aussagen oder die erstaunlichen Ereignisse, welche die Erzählungen einleiten, werden so als Konsequenz phantastisch anmutender Ereignisketten sichtbar, deren Logik sich nicht selten aus der poetischen welt des Volksglaubens speist. Mit erzählerischem Geschick spitzt Direitinho die Texte auf die unerwartete Wendung zu.

In seinem Roman Breviário das Más Inclinações (1994), der deutsch im September im Hanser Verlag vorgelegt worden ist, taucht Direitinho vollständig in die Vorstellungswelt hinter den Bergen ein. Gerade in den Anspielungen auf einige der Erzählungen im Roman wird deutlich, daß der Autor nun sein eigentliches Element gefunden hat. Im Roman wird eine Version des Lebens von José de Risso erzählt, dessen Biographie nach den Erklärungsmustern des Volksglaubens strukturiert ist. Dies zeigt sich bereits im Anfangskapitel, denn de Rissos Zeugung und Geburt beruht auf einem Fehler: Obwohl die Mutter alle Rezepte anwendet, welche den Reiz steigern, aber die Empfängnis verhindern sollen, hat sie dabei etwas übersehen: "Bevor sie von zu Hause fortgegangen war hatte sie einen Tee aus Granatapfel und Lorbeer getrunken, damit die Galle ihr nicht in die Mundhöhle aufstieg. Sie vergaß dabei, daß dies zugleich der Heiltrank der gebärwilligen Frauen war." Überhaupt steht das Leben ihres Sohnes unter einem schlechten Stern: Er wird mit einem Unglücksmal auf dem Rücken in der Form eines Eichenblattes geboren, da seine Mutter während der ganzen Schwangerschaft das getrocknete Blatt einer Schwarzeiche in der Schürze trug: "Ich weiß nicht, wie es da hingelangt ist. Es gibt Dinge, die zwangsläufig geschehen, keiner kann sich ihnen entziehen." Zwangsläufig also entwickelt sich das Leben de Rissos unter dem Zeichen des Eichenblattes: Er wird zum Sonderling und Wunderheiler. Das Pulsieren und Brennen des Mals gibt dem Träger Hinweise auf kommende Geschehnisse oder seine Wunderheilkaft. Er schickt sich entsprechend der traditionellen Zeichendeutung in sein vorbestimmtes Leben, übernimmt das Heilwissen seiner Großmutter und auch einige Rezepte, die von nützlicher Wirkung auf die sexuelle Bereitschaft der verheirateten Dorffrauen sind. Auf Schritt und Tritt begleiten ihn die detailliert beschriebenen Rezepturen und die Zeichen geheimer Mächte. Als er endlich sein Eichenblatt verliert, wird sein Leben durch einen merkwürdigen Unglücksfall beendet. Jedoch wirken auch nach dem Tod die archaischen Muster weiter: Das Grab von José de Risso, der als Ehebrecher, Vergewaltiger, Mörder, Dieb und anderes mehr sein Unwesen im Leben trieb, wird dennoch zur Pilgerstätte für eine Gesellschaft, die sich nicht dem Dogma der Moral unterwirft, sondern allgegenwärtigen Kräften, die das Leben bis in die alltäglichsten Verrichtungen hinein bestimmen. In dieser Gesellschaft wird der Magier, Hexer oder Wunderheiler, der sich die geheimen Kräfte über den Tod hinaus dienstbar macht, zum wichtigsten Nothelfer.

Der Großstadtautor Direitinho schreibt sich ohne volkstümelnde, romantisierende oder ironisierende Haltung in den Überlieferungsschatz einer traditionellen Kultur ein. Er setzt damit eine der wichtigsten Tendenzen der iberischen Literaturen im 20. Jahrhundert fort. Wie sein Held José des Risso, der sein Wissen von galicischen Hexen bezieht, sucht auch Direitinho seine literarischen Vorbilder eher in der galicischen als in der portugiesischen Literatur. Die Figur einer jungen galicischen Witwe aus dem Roman, die ihren Mann, einen Sarghändler, hat umbringen lassen und nun als Freudenmädchen in Nordportugal lebt, könnte einem Esperpento des galicischen Schriftstellers Ramón del Valle-Inclán entsprungen sein - und sie stammt auch aus seinem Geburtsort. Valle-Inclán oder Alvaro Cunqueiro, einer der eindrucksvollsten galicischen Erzähler, haben längst aus dem geheimen Reservoir der traditionellen Kultur Galiciens und Nordportugals geschöpft. Ein dritter mit Galicien eng verbundener Autor schließlich ist in Direitinhos Roman gegenwärtig: Camilo José Cela, den man durchaus in der Gestalt eines wohlhabenden Galiciers erkennen darf, der einem Blinden, welcher die Legende José de Rissos (Riços?) erzählt, am Ende des Romans einen "Packen Schreibmaschinenabzüge" überreicht: Die archaische Welt wandelt sich unversehens in eine poetische des wer schreibt wen.

Die Lektüre beider Bände - und die Erzählungen als Prolegomena zum Roman sollte man nicht übergehen - dürften eines der fesselndsten Abenteuer sein, die der diesjährige Bücherherbst seinen Lesern zu bieten hat. 

José Riço Direitinho: Das Haus am Rande des Dorfes. Erzählungen; aus d. Portug. v. Boris Planer; Heidelberg: Elfenbein Verlag 1997; geb., 144 S., 32 Mark.
José Riço Direitinho: Brevier der schlechten Gewohnheiten. Roman; a. d. Port. von Andreas Klotsch; München: Hanser Verlag 1997; geb., 205 S., 34 Mark.


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