Gozzano: Reise zur Wiege der Menschheit
Guido Gozzano:
»Reise zur Wiege der Menschheit«
Briefe aus Indien

Aus dem Italienischen übersetzt und mit einem Anhang von Olaf Posmyk

2005, Ln., 216 S.
€ 18 [D] / € 18,50 [A] / sFr 31
ISBN 978-3-932245-75-6



Textauszug
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Guido Gozzano (1883–1916) lebte in seiner Geburtsstadt Turin, wo er ein Jurastudium begann, aber nicht zu Ende führte. Aus großbürgerlichem Elternhaus stammend, konnte er sich – schon als Student an Tuberkulose erkrankt – ganz seinen literarischen Neigungen widmen: Er veröffentlichte Gedichte, Kurzromane, Erzählungen und Märchen, die stark vom Symbolismus belgisch-französischer Prägung beeinflusst sind, und zählt heute zu den bedeutendsten Vertretern der Gruppe der »Crepuscolari«. 1912/13 begab sich Gozzano, der leidenschaftlicher Insektenforscher war, auf die Jagd nach Schmetterlingen und neuen Eindrücken in Indien. Seine Reiseberichte erschienen postum 1917.



Über das Buch

Unterhaltsam, frivol, melancholisch: Während der Turiner Dichter Guido Gozzano vor dem Ersten Weltkrieg in Ceylon und Indien Linderung für seine Schwindsucht erhofft, schickt er eine ganze Reihe von kleinen Berichten an Zeitungen in seinem Heimatland. Gozzano ist jung, mit offenen Augen für die Merkwürdigkeiten exotischer Länder, aber zugleich weiß er, dass die Krankheit seinem Leben ein allzu frühes Ende zu setzen droht. Er kennt die Reiseerzählungen von Loti und Haeckel, die wenige Jahre zuvor diese Weltgegend bereist haben, aber seine Herkunft und sein Leiden geben Gozzanos Schilderungen eine ganz eigene Atmosphäre, und die kurzen, in sich abgeschlossenen Skizzen vermitteln immer wieder frische Einblicke in eine Welt, die den meisten Europäern vor einem Jahrhundert noch faszinierend fremd war, eine Welt von Elefantenkunststücken, Geierbestattungen, Tempeldirnen und Liebesgrotten, eine märchenhafte Welt, deren Erinnerung selbst allmählich zu einem Märchen wird. Beinahe neunzig Jahre nach der Erstveröffentlichung lässt diese Sammlung nun erstmals die deutschsprachige Leserschaft teilhaben an den ausgedehnten Reisen Gozzanos, der sonst vor allem als Dichter des italienischen Fin de Siècle und als Märchenerzähler (»Die drei Talismane«) bekannt ist.


Textauszug:

Seit drei Tagen schon will man mich zu den Türmen des Schweigens führen. Aber es stirbt niemand. Doch heute betritt Lady Harvet, eine bejahrte, wunderschöne Dame – sie ist ganz weiß, Kleid, Gesicht, Haare, das einzig Farbige an ihr sind die hellblauen Augen – jubelnd den Lektüresaal des Majestic Hôtel: »Er ist tot!« Und gefolgt von ihrem Sohn und Doktor Faraglia, alle jauchzend: »Er ist tot!« Er ist gestern Abend gestorben, ein recht bedeutender Parse, der Architekt Donald Antesca-Cabisa; die Leichenfeier wird heute um 18 Uhr stattfinden. Sie haben Glück: Wir haben Zeit genug, einen Ausflug zur Esplanade zu machen und auf den Malabar Hill zu steigen, um der Zeremonie beizuwohnen; wir werden unseren Lunch im Tower’s Garden einnehmen; wir haben unseren Proviant dabei …
Und schon sitzen wir in einem Auto in voller Fahrt – ich, der ich so gern langsam zu Fuß gehe, um in diesen ersten Tagen, die Freude, Neuland zu betreten, voll auszukosten –, und die Stadt fliegt an unseren Seiten wie ein schwindelerregend schnell abgespielter Film vorbei. Da ist auch schon die Esplanade, wo das Keuchen der Automobile und das Stampfen der Kutschpferde mit dem Geschrei einer aus zehn verschiedenen Rassen zusammengesetzten Menge und dem Spiel von zwanzig Militärkapellen verschmilzt. Dies ist die Promenade, der Bois de Boulogne von Bombay: interessant, disparat, unlogisch, wie ein futuristisches Gemälde: all die verschiedenen Fahrzeuge und Zugtiere, Karren der Einheimischen, von buckligen Zebus mit vergoldeten Hörnern gezogen, Elefanten mit bis zum Boden reichenden Satteldecken aus äußerst reichem Samt, unter denen nichts als die vier riesigen Fußballen, die gestutzten Stoßzähne, der Rüssel und die unablässig wie zwei Fächer geschüttelten Ohren hervorragen; Kutschen mit blendend weißen Pferden, denen keuchende und keifende Herolde voranschreiten: Im Innern des Wagens ruht bequem die Gattin, die Tochter eines englischen Beamten, und die blonde Dame, nach der neuesten europäischen Modezeitschrift stilvoll zurechtgemacht, bildet einen merkwürdigen Kontrast zu der exotischen und archaischen Pracht des Gefährts, zu den Turbanen, zu den Samtkleidern der Kutscher und der bronzefarbenen Nacktheit der Herolde.

© 2005 Elfenbein Verlag

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