Azoulay: Josty
Isabelle Azoulay:
»Josty«
Eine Liebe zwischen Berlin und Sils Maria
2009, Ln., 152 S.
€ 19 [D] / € 19,60 [A] / sFr 27,50
ISBN 978-3-932245-90-2
Kartoniert: € 9,0 [D]
ISBN 978-3-941184-27-5
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Buch

Berlin, Anfang des 19. Jahrhunderts: Johann hat es durch »Fleiss und Thätigkeit« zu einem wohlhabenden Patissier gebracht: Kunden aus »Hof, Kunst und Geist« lieben seine süßen Kunstwerke. Das Leben in der höheren Gesellschaft ist für ihn nur ein Spiel mit Umgangsformen – um preußische Konventionen schert er sich nicht. In Lina findet Johann eine perfekte Verbündete: Sie ist eine unabhängige Frau und ihrer Zeit weit voraus. Und da Lina Jüdin ist und nicht konvertieren will, leben beide in wilder Ehe glücklich zusammen. Doch Johann wird immer mehr von Schuldgefühlen geplagt: Als zwölfjähriger Junge war er – ohne sich zu verabschieden – vor der Armut und Enge seines Elternhauses im Engadin geflüchtet. Ein Lottogewinn ist nun der Auslöser für eine Reise an den Ort seiner Kindheit: Sils Maria. Es ist Johanns zweite Flucht – diesmal vor dem Verlust der Erinnerung. – Isabelle Azoulay erzählt nicht nur die Geschichte einer unkonventionellen Liebe in einer politischen und gesellschaftlichen Umbruchzeit. Es ist auch ein Buch über den Wunsch nach Individualität und über die Angst, aus der Welt zu fallen.

Autorin

Isabelle Azoulay (geb. 1961) wuchs in Paris auf, studierte an der Sorbonne und in Frankfurt am Main Soziologie und lebt heute in Berlin. Sie veröffentlichte bereits die soziologischen Studien »Phantastische Abgründe« (1996), »Die Gewalt des Gebärens« (1998) und »Schmerz« (2000), ist Gründerin der Berliner Künstlergruppe »ImWestenWasNeues« und Initiatorin des ersten »Mobile Film Festivals« 2007. Ihr literarisches Debüt »De Gaulle und ich« erschien 2008 im Elfenbein Verlag.

Auszug

Johann hatte sich durch die beunruhigenden Nachrichten nicht beirren lassen wollen. Die »Helvetische Republik«, deren Verfassung am 12. April 1798 proklamiert wurde, schien Frieden zu bringen. Im Oktober 1798 kamen die Österreicher, im März 1799 die Franzosen, in Samedan wurde unter Glockengeläut und aus Protest die helvetische Fahne gehisst, im Mai wieder die österreichische. Manche Reisende mieden die Berge ganz, empfanden sie als unsicher. Man rapportierte Berichte von Einquartierungen, von der Schlacht bei La Punt, von Vermögenskonfiszierungen und Deportationen, die in Samedan am Inn so viel aufwirbelten. Immer wieder erzählten Landsleute, die nach Berlin kamen: »Da ändert sich nichts.« 1803, als keiner mehr auf die Vernunft vertraute, der Anschluss an die Schweiz. Endlich Ruhe. Aber Johann hatte dieser Ruhe selbst aus der Ferne nie getraut. Die Hoffnung, dass irgendeine erfreuliche Nachricht aus den vertrauten Bergen kommen mochte, war im Lauf der Jahre verblasst. So hatte er seine Gedanken an Sils selbst viele Jahre verscheucht, hatte seit der Lehre dem Süden ganz den Rücken gekehrt. Nun erst drängte sich diese oft vernarbte Neugier auf.
Er starrt auf den offenen Koffer. Seine Schuhe werden geputzt. Ohne Worte wird um ihn herum eine Reise vorbereitet. Albtraumhaft stellt er sich vor, seine Mutter, grau geworden, würde ihn nicht erkennen. Er, ein Unbekannter in der Heimat, der auf und ab geht – und die Blicke wenden sich ab. Sie werden mich nicht erkennen. Er tagträumt, einen Boten vorzuschicken, um seinen Besuch anzukündigen, der Bote selbst an der Hand ein Kind, das ihm das Wort rede, der Mutter, ganz leise ins Ohr: Johann kommt, damit sie nicht erschrecke. Johann würde der Mutter nicht sagen müssen: Ich bin weggegangen, und dazu hatte ich ein Recht. Und vielleicht auch einen Grund. Ich bin gegangen, ohne mich zu verabschieden, das stimmt. Gewiss wusstest du, dass ich nicht anders konnte. Ob sie noch die Kraft finden wird, sich auf den verlorenen Sohn zu freuen? So viel verlangt er gar nicht. Empfindet er Reue? Hätte er früher hinfahren sollen? Ja. Hat er etwas versäumt? Aber was bloß? Zeit? Zeit wofür? Die Mutter und die Großmutter retten? Wovor retten? Die Zeit anhalten, ihre Falten glätten? Das Grau des Tals verwischen? Das Scheitern des Vaters rückgängig machen? Die Blindheit des Bruders Kleinmichel ungeschehen machen? Jahrzehnte sind vergangen, man trifft die Entscheidung einer Reise, steht in einem dunklen Zimmer und bekommt es mit der Angst zu tun, das Haus der Kindheit zu sehen, der Mutter in die Augen zu schauen. Adelina, die zarte Großmutter, die in diese verdammte Kindheit alles Menschliche und Kultivierte hineingepflanzt hat, die Heilige, war gestorben. Vor zehn Jahren. Aus La Rochelle hat Johann von seinem Bruder die unannehmbare Nachricht erhalten. Keinen Brief, nur diese Mitteilung hatte Daniel über sich gebracht. Das Heillose knapp gehalten. Johann las, las noch einmal und legte das Billet für immer weg. Sprach mit niemandem. Schob es tief in dieses unmögliche Paket, das er sich heute zu öffnen wagte.

Pressestimmen

»Die große Stärke dieses Buches sind seine Bilder, die zahllosen Sinneseindrücke, die lebendig werden. Und die Metropole Berlin, wie sie sich vor 200 Jahren dargestellt hat, wird in einem modernen, eleganten Erzählton plastisch.«
(Olga Hochweis, Deutschlandradio Kultur)

© 2009 Elfenbein Verlag

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